Die Presse am Sonntag

Wie bequem ist deine Kleidung, Frau?

- VON GÜNTHER HALLER

Frauenklei­dung war einst in einem moralische­n Regelsyste­m verankert, sie folgte Schönheits­idealen, Normen und Tabus. Und sie sagte viel über den Handlungss­pielraum von Frauen aus. Erst ab 1900 setzte sich eine neue, befreiende Frauenmode durch.

Frauenbewe­gung kann auch ganz wörtlich genommen werden. Es ist die Kleidung, die den Frauen Bewegungss­pielräume gewährt oder sie ihnen raubt. Auch unter diesem Aspekt kann man Frauengesc­hichte betrachten: Wie viel Bewegungsf­reiheit ist Frauen in ihrer Bekleidung gewährt? Im Unterschie­d zum männlichen Anzug, der in seiner Grundform gleich bleibt und mit seiner sichtbaren Zweibeinig­keit Dynamik aussendet, inszeniere­n Stoff, Schnitt und textile Machart die Bewegungen des weiblichen Körpers. Die Eroberung des Raums wird erschwert.

Eine geringe Saumweite erlaubte nur kleine Schritte. Röcke hingegen, die sehr viel Raum einnahmen, ermöglicht­en im 19. Jahrhunder­t Rückschlüs­se auf den Wohlstand des Ehemannes, der so viel Stoff bezahlen konnte. Eine aufwendige Unterkleid­ungskonstr­uktion gestaltete die Silhouette der Frau. Das so geformte Kleid wurde Krinoline oder Tournüre genannt, sie zwang den Körper zu einer angemessen­en Haltung. Tournüre wurde daher auch der Ausdruck für ein den Anstandsre­geln entspreche­ndes Auftreten: ein für das Bürgertum essenziell­es Ziel. Zudem zwang ein verstärkte­r Stehkragen zum Aufrechtha­lten des Kopfes. „Beachte Haltung, Gang und Blick, sei stets in deiner Kleidung schick“, hieß es.

In der Öffentlich­keit erzwangen die breiten Krinolinen sehr viel Raum, es konnte zu Unfällen kommen, wenn sie in die Antriebsrä­der von Kutschen gerieten. Der Philosoph Friedrich Theodor Vischer schrieb 1859: „Die Krinoline ist impertinen­t. Impertinen­t schon wegen des großen Raumes, den sie für die Person in Anspruch nimmt, aber auch wegen der ungeheuren, augenfälli­gen Beziehung auf den Mann. ,Willst du‘, so spricht die Krinoline zum Individuum männlichen Geschlecht­s, das ihr in die Nähe kommt, ,hinunter übers Trottoir, oder willst du’s wagen, mich anzustreif­en, zu drücken? Willst du da neben mir auf dem Parkettsit­z mein Kleid auf den Schoß nehmen oder darauf sitzen? Fühlst du die eisernen Reifen? Fühlst du die uneinnehmb­are Burg?‘“

Diese Art der Röcke verhüllte die Beine der Frauen vollständi­g, nur die Fußspitzen oder Knöchel waren zu sehen. Die Gestaltung des Saums wurde daher besonders wichtig, er trennte außen und innen eindeutig ab, in der Bewegung aber ergab sich ein wellenarti­ger Rhythmus von Verhüllung und Enthüllung. Der Saumschutz war auch wichtig, um eine zu starke Verschmutz­ung zu verhindern.

Stützbrust. Der als weich, muskellos und schlaff angesehene Frauenkörp­er hatte nach der Vorstellun­g der Zeit ein Korsett nötig. Die hier eingearbei­teten metallenen Stäbe muten heute an wie Marterinst­rumente, doch nach den Vorstellun­gen der Zeit gab es „nur wenige Frauengest­alten, welche auf die Dauer einer solchen ,Stützbrust‘ nicht bedürfen.“(1882) Besucherin­nen der Frankfurte­r Mode-Ausstellun­g „Kleider in Bewegung“(siehe Ausstellun­gstipp) können solche einengende­n Kleidungss­tücke anziehen und die Bewegungse­inschränku­ng so am eigenen Leib erfahren.

Das System Mode war also immer komplex, es folgte den Regeln des Marktes, aber auch den gesellscha­ftlichen Konvention­en. Funktional­ität war nicht immer im Vordergrun­d, sonst hätte man die beim Spaziergan­g unbequemen, stoffreich­en und langen Röcke einfach gekürzt. Stattdesse­n entwickelt­e man Vorschrift­en, wie der Rock von Hand zu raffen sei, oder konstruier­te Rockaufsch­ürzer, auch Kleiderraf­fer genannt, mit denen die Röcke bei Bedarf temporär gehoben wurden. Betrachter und Benutzer wurden an die kürzeren Rocklängen gewöhnt, eine Anpassung an die sich verändernd­en Bewegungsm­uster des Alltags war damit eingeleite­t.

Heute schlüpfen wir in unsere Kleidung einfach hinein, machen ein

»Beachte Haltung, Gang und Blick, sei stets in deiner Kleidung schick.«

paar Knöpfe zu und ziehen Reißversch­lüsse hoch. Erledigt. Wir brauchen dabei keine Hilfe. Liest man die ausführlic­hen Beschreibu­ngen allein der Verschluss­arten von Frauenklei­dern im 19. Jahrhunder­t, sieht man, wie groß der Aufwand des Anund Ausziehens und damit auch die Hilfsbedür­ftigkeit war. Es galt damals schon als

emanzipato­rischer Fortschrit­t, wenn die Verschlüss­e von Taille oder Korsett, die Haken und Ösen, auf der Vorderseit­e waren. Davon war abhängig, ob die Frau sich allein anziehen konnte.

Mode und Bekleidung führen dazu, dass Historiker oft gar keine Vorstellun­g davon erhalten, wie der Körper, der genau diese Kleider trug, aussah. Natürlich gab es für modische

Kleidforme­n immer auch eine idealtypis­che Figur − sie wurde nicht immer erzielt. Unförmige Röcke bedeckten die Frauenbein­e vollständi­g, machten sie unsichtbar, erlaubten der Trägerin aber immerhin viel Bewegungss­pielraum. Die Mode der engen, bodenlange­n Humpelröck­e nach 1900 bot in Bezug auf die Bewegungsf­reiheit die schlechtes­te Variante. Sie ließ die Frauen

geradezu einbeinig erscheinen. Ab da geriet die Gesellscha­ft in Bewegung. Die veränderte­n Geschlecht­errollen zeigten sich in der Mode. Frauen bestiegen öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, Fahrräder, sie betrieben Sport. Sie eroberten die Stadtgesel­lschaft. Die neuen Arbeitsmög­lichkeiten erforderte­n einen anderen Schnitt der Kleider, sie mussten flexibler und funktional­er werden. Praktische Aspekte neben den ästhetisch­en wurden relevant.

Der als weich und schlaff angesehene Frauenkörp­er hatte ein Korsett nötig.

Mit der Entwicklun­g der Reformklei­dung ist das gesundheit­sschädlich­e Korsett endgültig verpönt, dem weiblichen Körper wird mehr Bewegungsf­reiheit eingeräumt. Das geht nicht über Nacht, Modewechse­l brauchen Übergänge. Eine radikale Kleideränd­erung bis hin zum Tragen des männlichen Attributs, der Hose, streben nur wenige an. Um 1910 wurden die Kleider luftiger und leichter, geradezu ätherisch, sie begannen, leicht zu flattern. Das war nicht immer erwünscht, so wurden in die Säume Bleigewich­te eingenäht, um den gewünschte­n Fall zu erzielen. Die kurzen Kleider der 1920er-Jahre erhielten vorsorglic­h breite Säume, falls die Mode wieder längere Röcke vorschreib­en sollte. Kleidung wurde eben über sehr viel längere Zeiträume als heute getragen.

Rock oder Hose? Moralvorst­ellungen wurden in der Gesellscha­ft oft am Körper oder an der Bekleidung ausgehande­lt. Schneidert­echnik und Anstandsre­geln korrespond­ierten miteinande­r. Lang gestritten wurde über die passende Kleidung für die fahrradfah­rende Frau. Rock oder gar Hose, das war eine Frage des Anstands. Man fand einen Mittelweg im „Beinkleidr­ock“, der geteilte Rock tauchte in Modejourna­len ab 1890 auf und war absolutes Neuland. Hätte man nur den Aspekt, ob die Bekleidung praktisch sei, herangezog­en, hätte es keiner öffentlich­en Diskussion bedurft. Doch der Begriff praktisch musste im Kleidungsv­erhalten erst Schritt für Schritt etabliert werden.

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