Die Presse am Sonntag

»Culture Clash« der Hochkultur­en

- VON GABRIEL RATH

Die beiden Londoner Traditions­vereine Arsenal und Tottenham sind einander seit über 100 Jahren in inniger Feindschaf­t zugetan. Jetzt eint beide noch etwas, London spielt gegen Österreich. Sie treffen in der Europa League auf Rapid bzw. Lask. »Boring Arsenal« oder der »St. Hotspur Day«: Englands Fußball ist stets einfallsre­ich.

Wenn Lask und Rapid in dieser Woche in der Europa League auf Londons Traditions­vereine Tottenham Hotspur und Arsenal F.C. treffen, bringen beide eine reiche Derbygesch­ichte mit. Lask kämpfte über Jahrzehnte mit Voest Linz um die Vorherrsch­aft in der Stahlstadt, und für Rapid ist bis heute das Duell mit Austria ein Höhepunkt jeder Saison. An die Rivalität zwischen den „Gunners“und den „Spurs“reicht aber nichts heran. „Das Nordlondon-Derby war das wichtigste Spiel des Jahres für uns“, erinnert sich der ehemalige Arsenal-Verteidige­r Lee Dixon stets mit Schaudern zurück. „Böse. Hart. Gnadenlos.“

Als Helmut Qualtinger „Simmering gegen Kapfenberg, das nenn’ i Brutalität“sagte, hatte er nie ein Spiel dieser englischen Größen gesehen. Besonders in grauer Vorzeit ließ man es so richtig krachen. Über das Derby im September 1922 berichtete der Reporter des „Sunday Evening Telegram“empört: „Nach dem Tor der Spurs kam es zu den schändlich­sten Szenen, die ich jemals auf einem Fußballpla­tz gesehen habe. Spieler rissen den Schiedsric­hter zu Boden, Fäuste wurden geschwunge­n und alle Würde wurde grob mit den Füßen getreten.“Das Spiel endete, nebenbei bemerkt, mit einem 2:1 Auswärtssi­eg von Arsenal auf der White Hart Lane.

Räumliche Nähe. Das alte Stadion von Tottenham befand sich nur 6,5 Kilometer von Arsenals Spielstätt­e in Highbury entfernt. Die Kanoniere waren erst 1913 aus dem Süden Londons in den Norden gezogen, und die Fans der 1882 gegründete­n Spurs machten kein Hehl daraus, dass der Neuankömml­ing hier nicht sonderlich willkommen war. Tottenham war damals unter vielen Juden beliebt, weshalb sich die Fans bis heute manchmal „Yids“nennen. Heute haben beide Vereine eine vergleichb­are Anhängersc­haft.

Als die oberste Spielklass­e im Jahr 1919 auf 20 Mannschaft­en erweitert wurde, machte sich Tottenham begründete Hoffnungen auf einen der beiden Plätze. Obwohl Arsenal die Unterliga nur als Sechster beendet hatte, gewann man eine Kampfabsti­mmung nach einer flammenden Empfehlung des Vertreters von Liverpool. Das Gerücht ist nie verstummt, dass damals nicht nur Argumente den Ausschlag gaben. Autor Steven Tongue: „Das war der Beginn einer echten Feindschaf­t.“Wenn sich ein Tottenham-Fan einmal ein anerkennen­des Wort über Arsenal abringt, sagt er heute noch: „Nicht schlecht für einen Verein, der nie rechtmäßig den Aufstieg geschafft hat.“

An solche aus Legenden geflochten­e Strohhalme mussten sich die Fans der traditione­ll in Weiß-Blau spielenden Hotspurs lang klammern. Von den bisher 200 Spielen seit dem ersten Aufeinande­rtreffen am 4. Dezember 1909 gewann Arsenal 82, Tottenham 65 und endeten 53 unentschie­den. Oft war die Feindschaf­t unter den Fans unterhalts­amer als das Geplänkel auf dem Spielfeld. „Boring Arsenal“wurden die rotweißen Kanoniere landesweit von Fans verhöhnt, wenn sie sich zu einem mühsamen „One-Nil To The Arsenal“(so ein weiterer Spottgesan­g) holzten. Die Spurs hingegen konnten lang nicht an ihre internatio­nalen Erfolge aus den 1970er-Jahren anknüpfen. Nick Hornby, der Mann, der Arsenal einen Platz in der Literatur gesichert hat, schreibt: „Sich über ein langweilig­es Fußballspi­el zu beschweren, ist so, als würde man sich über das tragische Ende von

Jos´e Mourinho ist bei Tottenham am Ball. Wie der portugiesi­sche Manager wohl am Donnerstag gegen Lask spielen lassen wird?

King Lear beklagen. Es geht an der Sache vorbei.“

Die Vision von Ars`ene Wenger. Dramatisch verbessert­e sich die spielerisc­he Qualität der Derbys erst nach der Fußballrev­olution, die der französisc­he Manager Arse`ne Wenger bei Arsenal startete und die rasch den englischen Spitzenfuß­ball erfasste. Unvergesse­n sind Klassiker wie das 5:4 von Arsenal 2004, das 4:4 im Jahr 2008 (Arsenal hatte 4:0 geführt) oder das 5:2 der Gunners 2012. Das süßeste aller Resultate aber war nicht ein Sieg, sondern jenes 2:2 an der White Hart Lane, mit dem sich Arsenals „Invincible­s“ausgerechn­et im Stadion des Erzfeindes im April 2004 den Meistertit­el sicherten.

So überlegen waren die Reds in dieser Periode, dass man den „St. Totteringh­am“

proklamier­te. Jenen Tag, an dem Tottenham Arsenal in der Tabelle nicht mehr einholen kann. Es sollte von 1995 bis 2017 dauern, bis Tottenham den Bann brechen konnte. Die Spurs-Fans trösteten sich mit dem „St. Hotspur Day“an jedem 14. April zur Erinnerung an das 3:1 ihres Teams im Cup-Semifinale 1991. Unverzeihl­ich auf beiden Seiten bleibt bis heute, wenn ein Spieler von einer zur anderen Mannschaft wechselt, wie etwa Verteidige­r Sol Campbell. „Judas“-Rufe verfolgten ihn jahrelang.

Wengers Revolution machte nicht nur auf dem Spielfeld halt. Unter seiner Führung wurde Arsenal ein moderner Wirtschaft­sbetrieb und übersiedel­te 2006 in das neu errichtete Emirates Stadium mit einer Kapazität von 60.000 Zuschauern. Als Tottenham im

Meistertit­el

und 14 FA-Cupsiege hat Arsenal FC zu Buche stehen. Der 1886 gegründete Klub (Gunners, Kanoniere) stammt aus dem Stadtteil Holloway des Nordlondon­er Bezirks Islington.

Trainer ist Mikel Arteta. Eigentümer ist US-Milliardär Stan Kroenke.

Meistertit­el

strahlen auf der Vita der Tottenham Hotspurs. 1882 gegründet, im Nordlondon­er Bezirk Haringey angesiedel­t. 1960/61 war Tottenham der erste englische Verein im 20. Jahrhunder­t, der Meistersch­aft und FA Cup (insg. acht) in einer Saison gewann.

Vorjahr seine neue Heimstätte eröffnete, war es wohl kein Zufall, dass man mit 62.000 Plätzen den Lokalrival­en zu übertrumpf­en suchte. Beide Vereine hatten an den Großbauten schwer zu tragen, auch sportlich.

Mourinho und Arteta. Wengers Abschied wurde stets durch Derbysiege hinausgezö­gert, erst unter Mikel Arteta schließt der Verein als Cupsieger wieder zur Spitze auf. Erstmals seit Menschenge­denken hat Arsenal eine solide Verteidigu­ng, für Mesut Özil ist hingegen endgültig Schluss. Er steht nicht im Kader für die Europa League. Mit 350.000 Pfund pro Woche ist er Londons bestbezahl­ter Spaziergän­ger.

Bei Tottenham übernahm im Vorjahr Jose´ Mourinho das Kommando. Nach dem 6:1-Triumph bei seinem ExVerein Manchester United Anfang des Monats höhnte der wegen seiner defensiven Spielweise oft kritisiert­e Portugiese: „Nicht auszudenke­n, wie viele Tore sie mit einem offensiven Trainer schießen würden.“

Duelle der Europa League: Lask spielt in London, Arsenal in Hütteldorf.

Dieser Tage zieht Ex-Arsenal-Boss Wenger mit einer virtuellen Präsentati­on seiner Autobiogra­fie („My Life in Red and White“) durch die Lande. Die Stimmung ist so zivilisier­t, dass selbst die einstigen Erzfeinde Wenger und Mourinho Nettigkeit­en austausche­n. Doch nur von Altersmild­e getrübter Wahrnehmun­g ist es wohl zuzuschrei­ben, wenn Wenger nun über das Nordlondon-Derby sagt: „Rivalität immer, Feindschaf­t nie.“

Andere Fußballwel­t. Am Donnerstag steigt das Duell London gegen Österreich. Arsenal ist in Hütteldorf zu Gast, Lask an der High Road. 62.000 Zuschauer fänden in diesem Fußballpal­ast Platz. Corona verdirbt den Linzern nach dem Auftritt gegen Manchester United auch dieses Erlebnis.

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AFP

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