Die Rettung des Korallenkaktus
Die vielen kleinen Blütensternchen der Rhipsalis tauchen zwar erst nach ein paar Jahren auf, doch das Warten zahlt sich aus. Zumindest die Vermehrung dieser reizenden Kakteengattung könnte einfacher nicht sein.
Irgendwann in den 1960er-Jahren, ich war noch nicht auf der Welt, kam mein Großvater eines Abends von der Idee eines Blumenfensters beseelt nach Hause. Auf einem seiner Streifzüge hatte er ein solches erblickt und augenblicklich Gefallen an dem damals neumodischen Accessoire gutbürgerlicher Stuben gefunden. Die Familienchronik berichtet, er habe das Wohnzimmer des alten Bauernhauses mit prüfendem Blick betreten, Krampen und Stemmeisen in der Hand, und sich ans Werk gemacht.
Die Großmutter konnte gerade noch ihren geheiligten Perserteppich in Sicherheit bringen, dann fielen die ersten Brocken. Er war ein Mann der Tat, zumindest das kann ich bezeugen, und beide waren sie mit grünen Daumen gesegnet. Als der Haussegen später wieder gerade hing, entwickelte sich das Blumenfenster zu einer Oase der absonderlichsten Pflanzen. Manche von ihnen blühten nur selten, doch dann in spektakulären Formen, Farben, Düften.
Wenn beispielsweise die Stapelia, die meiste Zeit ein unansehnliches, geradezu langweiliges Gewächs, endlich Blütenknospen trieb, warteten wir tagelang ungeduldig darauf, dass sie sich endlich öffneten. Die fünfzackigen Sterne waren bräunlich gefleckt und ledrig, sie sahen aus wie urzeitliche Meerestiere, und, das Beste daran, sie stanken wie Aas. Ganz rechts hing das Prunkstück der Sammlung, eine sogenannte Königin der Nacht. Das legendäre Kaktusgewächs Selenicereus grandiflorus treibt riesige weiße und stark duftende Blütenkelche, die sich sommers jedoch nur für eine Nacht öffnen, und wenn es so weit war, durften wir aufbleiben und das flüchtige Naturspektakel betrachten.
Gut Ding braucht mitunter Weile. Dankenswerterweise bekam ich unlängst ein paar Triebe dieser Prachtpflanze geschenkt. Ich behandelte sie vorschriftsmäßig, ließ sie, um Fäulnis vorzubeugen, drei Wochen liegen und setzte sie erst ein, als sich an den Bruchstellen die ersten Wurzeln zeigten. Noch ist von Blüten natürlich keine Rede, und es wird wahrscheinlich ein paar Jahre dauern, bis sich die ersten Knospen bilden. Gut Ding braucht eben mitunter Weile, doch dieser Tage war es zumindest mit einer anderen Kakteenpflanze so weit. Ich konnte die zu Besuch weilende Nachbarin mit dem Anblick der allerersten Sternchenblüte einer Rhipsalis crispata entzücken. Ihre Mutterpflanze hatte ich im Herbst vor vier Jahren in einem Gartencenter erblickt. Sie stand vernachlässigt und zerzaust unter einem Regal auf dem Boden, und da man davon ausgehen darf, dass dort Abgebrochenes zusammengefegt und weggeworfen wird, rettete ich einen wenige Zentimeter kleinen Trieb in meiner Jackentasche.
Denn auch wenn man geduldig sein muss für gewisse Spektakel, so ist zumindest die Vermehrung von Sukkulenten eine simple Übung. Sie gelingt mit den allerkleinsten Ablegerchen, auch mit solchen, die man, um es einmal so auszudrücken, am Wegesrand aufklaubt, also irgendwo unbemerkt abzwickt. Besagte Rhipsalis crispata ist insofern reizend, als sie an den Rändern ihrer blattartig verbreiterten Triebe
unzählige, wie Perlen aufgefädelte Blütchen treibt.
Die Nachbarin war angetan und würdigte die Pflanze entsprechend, wandte sich jedoch sogleich der ebenfalls über und über mit Blütensternen sowie rot leuchtenden Kaktusfrüchten behängten Rhipsalis pilocarpa daneben zu. So eine, meinte sie, besitze sie auch. Diese hier, so antwortete ich, sei ein Ableger davon, woher denn die Mutterpflanze eigentlich stamme? Sie überlegte kurz und meinte sich daran zu erinnern, seinerzeit in einem Gartencenter einen abgebrochenen Trieb aufgeklaubt zu haben.