Wo die Post abgeht, und wer sie bringt
Stromautos sind bei der Post ein alter Hut: Die erste Flotte surrte 1913 durch die Gassen.
Auch »meinen« Postzusteller wollten sie elektrifizieren. Aber der weigerte sich. Emissionsfrei ist er schon längst unterwegs. In seinem Rayon kennt er Gott und Welt beim Namen – und am Ende der Arbeitswoche hat er einen Marathon in den Waden.
Acht bis zehn Kilometer – in etwa die Distanz, die Autofahrer in Wien täglich zurücklegen. Auch Angelo Koller kommt werktags auf diesen Wert, eher am oberen Ende, allerdings ohne Auto: Per pedes statt Mercedes.
Koller ist Postzusteller und damit jener Mann, der morgens die Briefkästen in meinem Haus klappern lässt, und von anderen, die in seinem Rayon wohnhaft sind: in und um die Zeillergasse in Wien Hernals. Er bringt, worauf man sich freut oder zumindest wartet, Ansichtskarten, die Wahlkarte, Zeitung, Amazon-Packerl, aber auch alles andere: Stromrechnung, Mahnung, amtliche Schreiben und – zu beiderseitigem Leidwesen – viel Werbung.
Und Angelo Koller nimmt etwas vorweg, was die Post eigentlich erst bis 2030 sein will: „Emissionsfrei auf der letzten Meile.“
Zu dem Zweck wird der ZustellFuhrpark zunehmend elektrisch – in zehn Jahren, rechnet der Fuhrparkchef, wird man ihn komplett auf E-Fahrzeuge umgestellt haben, „vermutlich batterieelektrisch“, wie es heißt.
Das bedeutet, dass ab dem nächsten Jahr 500 bis 600 Elektrofahrzeuge jährlich angeschafft werden, ein nicht zu verachtender Treiber der diesbezüglichen Zulassungsstatistik. Momentan sind in Wien etwa 100 Elektrische in der Zustellung unterwegs, von insgesamt 350 ein- und mehrspurigen Kfz, gut für eine Million Kilometer im Jahr.
Strom vor 100 Jahren. Dabei sind Stromautos bei der Post tatsächlich ein alter Hut. Die erste Flotte von 29 „E-Mobilen“wurde vor mehr als 100 Jahren, genau: 1913 in Dienst gestellt – Lastwagen, von elektrischen Radnabenmotoren (Patent Lohner–Porsche) angetrieben, mit den Akkus in Holzkisten unter dem Wagenboden aufgehängt. Die konnten in der „Elektrischen Postautogarage“in der Unteren Weißgerberstraße, Wien Landstraße, schnell getauscht werden. Ein Revival dieser Wechselmethode endete vor wenigen Jahren in Israel als Fehlschlag.
Die „Elektrische Postautogarage“kassierte 1945, in den letzten Kriegstagen, noch einen kapitalen Bombentreffer, in den Jahren danach behalf man sich mit Bastelarbeiten aus Uralt-Material. Erdöl war noch knapper.
1955 waren in Wien, Graz, Klagenfurt, Linz und Salzburg wieder insgesamt 160 „Elektro-Paketwagen“auf Höhe der Zeit unterwegs, übrigens allesamt aus heimischer Produktion – anders als heute. Sie hielten sich bis in die Achtziger (Bestand 1981: 84 Stück).
Ledertasche. Da hatte unser „Mann mit der Ledertasche“(deutscher Titel von Charles Bukowskis erstem Roman, 1971, über seine Zeit beim U. S. Postal Service) als Postzusteller schon einige Kilometer auf dem Tacho – als er selbst eine Ledertasche trug, als Postler noch Pensionen auszahlten und zu zweit unterwegs waren. Und auch Angelo Koller wollte man unlängst elektrifizieren.
Postzusteller wie er schieben ein Wagerl mit gelben Planen vor sich her (eine Tasche könnte man beim heutigen Volumen längst nicht mehr schleppen), und im Fuhrpark dachte man: Was Räder hat, kann man auch elektrisch antreiben. Ob er nicht eins haben wollte? Koller sah sich das Stromwagerl an, drehte eine Runde, aber die Dinger sind teuer (was ihm egal sein könnte) und schwerer: „Nein, danke, solang ich’s noch ’derschieb.“
An der Hupe hängt der Regenschirm: Schon längst „emissionsfrei auf der letzten Meile.“
Man sieht es ihm nicht an, aber er ist Baujahr 1963 und verkörpert eindringlich jene Binsenweisheit, wonach Bewegung an der frischen Luft der Gesundheit zuträglich ist. Mehr als eine Marathondistanz hat er jede Arbeitswoche in den Waden, und um es gleich zu sagen: Das Schuhwerk, das ihm sein Dienstgeber dafür zur Verfügung stellt, trägt entweder ein Amateur spazieren oder es verstaubt irgendwo. In Sachen taugliche Schuhe findet man in Angelo Koller einen Fachmann.
Am heutigen Tag – wir haben mit Notizblock in der Hand die Verfolgung aufgenommen – trägt er Adidas, und sein Schritttempo ist höher als das vieler Jogger. Auch der Oberkörper wird bedacht: Allein an den in Sammelstellen deponierten schweren Packen Reklame-Postwurf, die von ihm gehoben, entbunden und danach einzeln sortiert als feistes „Post-Kuvert“in die Fächer gestopft werden, errechnet man schnell gute 320 Kilogramm, so über den Tag. Wollte man den Mann ärgern, schenkt man ihm eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio.
Kein Wind. Warum tut man das, und warum so lang? Mit 15 machte er bei der Post ein Praktikum, blieb dabei, wurde mit 24 automatisch Beamter, und heute ist er der Dienstälteste auf dem Postamt in der Wattgasse. 42 Jahre ist er dort, und viele Male schon hätte er in den Innendienst wechseln können, hinter einen Schalter, an den Computer, wo es immer trocken ist, wo kein Wind geht, wo man sitzen kann.
Denkt er manchmal an diese vergebene Behaglichkeit, an verpasste Karrierechancen vielleicht, etwas in der Art? Wenn er in der
Nacht aufwacht, sagt er, und hört, wie Regen auf das Vordach vor dem Fenster trom
melt, als Auftakt für den bevorstehenden Arbeitstag, kommt ihm Profaneres in den Sinn: „Oaaasch.“
Denn wenn’s regnet, schiebt er mit der einen Hand das Wagerl, hält mit der andern den Schirm – und wird am Ende doch nass. Trotzdem: „Die Arbeit hat mir immer Spaß gemacht. Ich bin mein eigener Herr da draußen.“
Während wir im Laufschritt übers Trottoir eilen und alle paar Meter in einem Hauseingang verschwinden, fühlt es sich an wie in einem Dorf. „Tag Herr X“, „Tag Frau Y“, über die Gasse werden Grüße ausgetauscht, er kennt seine Kundschaft beim Namen (umgekehrt wahrscheinlich nicht); er weiß, wer Werbung goutiert und wer nicht und wohl noch einiges mehr, und wenn sich’s ergibt, gratuliert er zum Geburtstag. Eine ganze Generation sah er täglich in die Arbeit hasten, Menschen, die nun längst in Pension sind und mehr Zeit zum Plaudern hätten, als er ihnen bieten kann.
Früher sah er sie täglich in die Arbeit hasten. Heute hätten sie viel Zeit zum Plaudern.
Solche Dinge erzählt Koller völlig unsentimental, und sie rühren doch an: „In dem Haus hab ich einer Frau die Post übergeben, da hat sich ihre Kleine hinterm Rockzipfel versteckt. Der bring ich heute die Post, sie hat selbst drei Kinder.“
Dem Post-Nachwuchs, den Praktikanten, lehrt er Blickzeiten verkürzen, schnelle Einwurftechnik, und dass man nicht auf den Lift wartet, wenn man in den ersten Stock will. Einiges hat sich verändert über die Jahrzehnte, der Computer ist eingezogen, die Briefe sind weniger geworden, erst recht die in Kurrentschrift, die Rayons wurden größer, die Mannschaft nicht, aber seit ein Virus der Stadt ins Mark gefahren ist, ist alles verschoben. Man trägt Maske und „gibt sich nimmer die Hand“, was das Schmähführen und Necken der Kollegen auf der Dienststelle doch behindert, und seit „Wechseldienst“gilt, damit nicht zu viele auf einmal zusammenkommen, muss der Frühaufsteher mit Spätdiensten leben. Sich die Zeit vertreiben, wenn es um halb acht losgeht statt um sechs.