Warnrufe eines Unbeugsamen
Faule Ausreden, warum etwas im österreichischen Sport leider nicht funktioniert, kennt Wilhelm Lilge sonder Zahl. Plumpe Ausflüchte, warum Bewegung weder gewollt noch gesucht wird, hat er in den vergangenen Jahrzehnten zu oft gehört. Er spricht darob Missstände ungeniert offen an, kritisiert gern – und laut. Der studierte Betriebswirt, Diplomtrainer und Lebensberater steckt dafür selbst sehr viel Kritik ein. Nicht jeder mag ihn, viele glauben ihm nicht. Manche lehnen seine Methode ab.
Der Hardliner und Lauf-Experte, 56, zieht trotzdem nie zurück. Denn er folgt mit seinem Verein, team20212.at, einer Vision: Freude an Sport und Leichtathletik vermitteln, Spitzensportler unterstützen, Hobbysportler beraten. Lilge bezieht dafür keine staatliche Förderung. Er läuft ohne politischen Auftrag oder Partei.
Natürlich hätten Verbände und Organisationen durchaus ihre Daseinsberechtigung. Doch einem renommierten Leistungsdiagnostiker, der zwölf Jahre lang im IMSB-Institut Fäden gezogen hat und Einblick in alle Daten hatte, kann keiner etwas vormachen. Weder Politiker noch ein schwergewichtiger Funktionär. Der ehemalige Lauf-Nationaltrainer des ÖLV kennt Strukturen, Strömungen, Seilschaften, die Befindlichkeiten. „Österreichs Sport ist eine Pyramide, die auf dem Kopf steht. Unheimlich viel Geld wird in Erfolge für Medaillen gebuttert, aber dabei der Breiten- und Hobbysport übersehen. Das ist leider falsch, weil er doch die Basis für alles andere ist.“
Autonom, laut, unbeliebt. Auftritte und Erfolge, etwa von Lukas Weißhaidinger (Diskus) oder den Siebenkämpferinnen Verena Preiner und Ivona Dadic, wären für ihn „wirklich super“. Nur, wo viel Licht in Österreichs Sport, ist noch mehr Schatten. „Sie kaschieren die sonst traurige Situation.“Denn Leistungsrückgänge im Nachwuchssektor und in der Dichte seien „messbar“.
Den in der Gegenwart ob der Coronapandemie oft bemühten Begriff der Eigenverantwortung predigt der einzige hauptberuflich-selbstständige Lauftrainer des Landes schon seit jeher. Allerdings, wann und wenn nicht jetzt, sei sie notwendiger, fragt er und bittet unentwegt drei- bis viermal pro Woche im Dusika-Stadion („Derzeit tropft es nicht mehr durch die Decke, wohl ein Nebeneffekt von Verkalkung“) zum Training, macht Tests oder organisiert Lauftreffs nahe der Hauptallee. Lilge gilt, wenngleich Gegner und Konkurrenz Gegenteiliges eher glauben und sich an seinen Äußerungen reiben, als eine der wenigen Sport-Autoritäten des Landes. Über 100 veranstaltete Bewerbe, 300 Titel seiner Athleten, EM-, WM- oder Olympialimits „und 35.000 Laktattests in 30 Jahren“dokumentieren eine gewisse Kontinuität.
Doping sei eine Plage, sagt der angriffslustige Experte, der bestens geeignet wäre für leitende Rollen in der nationalen Doping-Aufklärung oder Sportpolitik. Es bleibt beim Konjunktiv, denn er sei zu unbequem, zu direkt; man könnte zu ehrlich sagen. Demut ist ihm fremd, sich stillschweigend in der Masse unterordnen unmöglich. Wer gegen den Strom schwimmt, muss ja alles anders machen. Also hinterfragt er Verhaltensweisen anderer zu seiner Konsequenz nicht weiter. Mancher grüßt ihn nun nicht einmal mehr.
Der Anti-Doping-Hardliner. Einflüsterer, Schulterklopfer, Trittbrettfahrer, Freunderlpartie – er kennt die Figuren des österreichischen Spiels. Und versteht, warum andere schweigen, obwohl sie lieber schreien würden ob sturer Stillstände oder gehöriger Mängel in Hallen, fehlender Kulturen und ja, Akzeptanz. Unabhängigkeit mit seinem 2008 ins Leben gerufenen Klub sei definitiv das höchste Privileg.
Auch im Anti-Doping-Kampf gilt er als Bastion, die selbst vor großen, von
Medienpartnern behüteten Namen – in den eigenen Reihen – nicht haltmacht. Im Ausland ist das wohlwollend wahrgenommen worden. Für die „Süddeutsche Zeitung“ist Lilge „Österreichs Anti-Doping-Kämpfer Nr. 1“. Nur, Fachkenntnis ist hierzulande ohne Parteibuch bloß eine Randnotiz. Wem „political correctness“gleichgültig ist in seinem Streben, Missstände nicht nur aufzuzeigen, sondern „es besser zu machen“, dem sind mehr Gegner denn Helfer gewiss. Den Vorwurf, „immer nur zu kritisieren“, weist Lilge zurück.
Im freien Markt, es gibt diese Zellen im österreichischen Sport, müsse man flexibel sein, Visionen haben. Er schreibt Pläne, Bücher („Sportland Österreich? Athleten, Abzocker, Allianzen“; Molden, 2013), hält Seminare, läuft mit oder lässt laufen. Drohgebärden belächelt er; dabei ist es nicht lustig, wenn sie ein für den Sport zuständiger Politiker äußert. Es sei bei der Besetzung dieser Posten getrost wie mit dem Zustand vieler Sportstätten. Stets eine Neubemalung, Pardon: Umfärbung. Auch hinter dem kurz vor der Wien-Wahl präsentierten Projekt „Sport 2030“wittert er bloß ein leeres Polit-Versprechen.
Lauftrainer Wilhelm Lilge will aufrütteln, provozieren – vor allem bewegen. Der beste Zeitpunkt, um Sport zu betreiben, sei mit der Krise längst gekommen. Nur mit der Eigeninitiative hapert es in Österreich. Wie immer, immer wieder.
Raucher wie Base-Jumper. Der Staat kann jedoch nicht für alles sorgen, sagt Lilge. Es bedarf in puncto Gesundheit tatsächlich „schleunigst“der Eigeninitiative. „Ich höre immer nur, was zu tun ist, wenn einer krank ist, ob es genug Betten und Versorgung gibt. Ich habe aber noch nie gehört, dass spätestens jetzt jedem bewusst sein müsste, dass man nicht nur jahrelang fressen, saufen und faul auf der Couch liegen kann. Weil man dann von einem Virus einfach umgehauen werden kann.“Selbst Raucher oder Base-Jumper würden doch irgendwann ihr Handeln hinterfragen und „nachdenken“. Nur, wieso gelingt das so vielen Österreichern in der Frage Sport partout nicht?
Er kritisiert und polarisiert. Ja. Aber er kennt das Land, alle Athleten, Abzocker, Allianzen.