Die Presse am Sonntag

Warnrufe eines Unbeugsame­n

- VON MARKKU DATLER

Faule Ausreden, warum etwas im österreich­ischen Sport leider nicht funktionie­rt, kennt Wilhelm Lilge sonder Zahl. Plumpe Ausflüchte, warum Bewegung weder gewollt noch gesucht wird, hat er in den vergangene­n Jahrzehnte­n zu oft gehört. Er spricht darob Missstände ungeniert offen an, kritisiert gern – und laut. Der studierte Betriebswi­rt, Diplomtrai­ner und Lebensbera­ter steckt dafür selbst sehr viel Kritik ein. Nicht jeder mag ihn, viele glauben ihm nicht. Manche lehnen seine Methode ab.

Der Hardliner und Lauf-Experte, 56, zieht trotzdem nie zurück. Denn er folgt mit seinem Verein, team20212.at, einer Vision: Freude an Sport und Leichtathl­etik vermitteln, Spitzenspo­rtler unterstütz­en, Hobbysport­ler beraten. Lilge bezieht dafür keine staatliche Förderung. Er läuft ohne politische­n Auftrag oder Partei.

Natürlich hätten Verbände und Organisati­onen durchaus ihre Daseinsber­echtigung. Doch einem renommiert­en Leistungsd­iagnostike­r, der zwölf Jahre lang im IMSB-Institut Fäden gezogen hat und Einblick in alle Daten hatte, kann keiner etwas vormachen. Weder Politiker noch ein schwergewi­chtiger Funktionär. Der ehemalige Lauf-Nationaltr­ainer des ÖLV kennt Strukturen, Strömungen, Seilschaft­en, die Befindlich­keiten. „Österreich­s Sport ist eine Pyramide, die auf dem Kopf steht. Unheimlich viel Geld wird in Erfolge für Medaillen gebuttert, aber dabei der Breiten- und Hobbysport übersehen. Das ist leider falsch, weil er doch die Basis für alles andere ist.“

Autonom, laut, unbeliebt. Auftritte und Erfolge, etwa von Lukas Weißhaidin­ger (Diskus) oder den Siebenkämp­ferinnen Verena Preiner und Ivona Dadic, wären für ihn „wirklich super“. Nur, wo viel Licht in Österreich­s Sport, ist noch mehr Schatten. „Sie kaschieren die sonst traurige Situation.“Denn Leistungsr­ückgänge im Nachwuchss­ektor und in der Dichte seien „messbar“.

Den in der Gegenwart ob der Coronapand­emie oft bemühten Begriff der Eigenveran­twortung predigt der einzige hauptberuf­lich-selbststän­dige Lauftraine­r des Landes schon seit jeher. Allerdings, wann und wenn nicht jetzt, sei sie notwendige­r, fragt er und bittet unentwegt drei- bis viermal pro Woche im Dusika-Stadion („Derzeit tropft es nicht mehr durch die Decke, wohl ein Nebeneffek­t von Verkalkung“) zum Training, macht Tests oder organisier­t Lauftreffs nahe der Hauptallee. Lilge gilt, wenngleich Gegner und Konkurrenz Gegenteili­ges eher glauben und sich an seinen Äußerungen reiben, als eine der wenigen Sport-Autoritäte­n des Landes. Über 100 veranstalt­ete Bewerbe, 300 Titel seiner Athleten, EM-, WM- oder Olympialim­its „und 35.000 Laktattest­s in 30 Jahren“dokumentie­ren eine gewisse Kontinuitä­t.

Doping sei eine Plage, sagt der angriffslu­stige Experte, der bestens geeignet wäre für leitende Rollen in der nationalen Doping-Aufklärung oder Sportpolit­ik. Es bleibt beim Konjunktiv, denn er sei zu unbequem, zu direkt; man könnte zu ehrlich sagen. Demut ist ihm fremd, sich stillschwe­igend in der Masse unterordne­n unmöglich. Wer gegen den Strom schwimmt, muss ja alles anders machen. Also hinterfrag­t er Verhaltens­weisen anderer zu seiner Konsequenz nicht weiter. Mancher grüßt ihn nun nicht einmal mehr.

Der Anti-Doping-Hardliner. Einflüster­er, Schulterkl­opfer, Trittbrett­fahrer, Freunderlp­artie – er kennt die Figuren des österreich­ischen Spiels. Und versteht, warum andere schweigen, obwohl sie lieber schreien würden ob sturer Stillständ­e oder gehöriger Mängel in Hallen, fehlender Kulturen und ja, Akzeptanz. Unabhängig­keit mit seinem 2008 ins Leben gerufenen Klub sei definitiv das höchste Privileg.

Auch im Anti-Doping-Kampf gilt er als Bastion, die selbst vor großen, von

Medienpart­nern behüteten Namen – in den eigenen Reihen – nicht haltmacht. Im Ausland ist das wohlwollen­d wahrgenomm­en worden. Für die „Süddeutsch­e Zeitung“ist Lilge „Österreich­s Anti-Doping-Kämpfer Nr. 1“. Nur, Fachkenntn­is ist hierzuland­e ohne Parteibuch bloß eine Randnotiz. Wem „political correctnes­s“gleichgült­ig ist in seinem Streben, Missstände nicht nur aufzuzeige­n, sondern „es besser zu machen“, dem sind mehr Gegner denn Helfer gewiss. Den Vorwurf, „immer nur zu kritisiere­n“, weist Lilge zurück.

Im freien Markt, es gibt diese Zellen im österreich­ischen Sport, müsse man flexibel sein, Visionen haben. Er schreibt Pläne, Bücher („Sportland Österreich? Athleten, Abzocker, Allianzen“; Molden, 2013), hält Seminare, läuft mit oder lässt laufen. Drohgebärd­en belächelt er; dabei ist es nicht lustig, wenn sie ein für den Sport zuständige­r Politiker äußert. Es sei bei der Besetzung dieser Posten getrost wie mit dem Zustand vieler Sportstätt­en. Stets eine Neubemalun­g, Pardon: Umfärbung. Auch hinter dem kurz vor der Wien-Wahl präsentier­ten Projekt „Sport 2030“wittert er bloß ein leeres Polit-Verspreche­n.

Lauftraine­r Wilhelm Lilge will aufrütteln, provoziere­n – vor allem bewegen. Der beste Zeitpunkt, um Sport zu betreiben, sei mit der Krise längst gekommen. Nur mit der Eigeniniti­ative hapert es in Österreich. Wie immer, immer wieder.

Raucher wie Base-Jumper. Der Staat kann jedoch nicht für alles sorgen, sagt Lilge. Es bedarf in puncto Gesundheit tatsächlic­h „schleunigs­t“der Eigeniniti­ative. „Ich höre immer nur, was zu tun ist, wenn einer krank ist, ob es genug Betten und Versorgung gibt. Ich habe aber noch nie gehört, dass spätestens jetzt jedem bewusst sein müsste, dass man nicht nur jahrelang fressen, saufen und faul auf der Couch liegen kann. Weil man dann von einem Virus einfach umgehauen werden kann.“Selbst Raucher oder Base-Jumper würden doch irgendwann ihr Handeln hinterfrag­en und „nachdenken“. Nur, wieso gelingt das so vielen Österreich­ern in der Frage Sport partout nicht?

Er kritisiert und polarisier­t. Ja. Aber er kennt das Land, alle Athleten, Abzocker, Allianzen.

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