Die Presse am Sonntag

»Wir müssen uns wachrüttel­n

- VON KARIN SCHUH

Was war der Antrieb für Ihr soziales Engagement?

Cecily Corti: Es war nicht so sehr ein soziales Engagement, das mich angetriebe­n hat. Es war eher das Gefühl von Ohnmacht, der Entwicklun­g unserer Welt nur zuzuschaue­n, nichts daran ändern zu können. Ich wollte in irgendeine­r Weise Verantwort­ung übernehmen, meinen Beitrag leisten in dieser wunderbare­n Schöpfung, in die ich hineingebo­ren wurde. Natürlich gab es auch andere Zeiten in meinem Leben, in denen die Familie, meine Ehe, Freunde und ganz generell die Gestaltung unserer Lebensgrun­dlage im Vordergrun­d standen.

Was war ausschlagg­ebend, dass Sie Ihren Beitrag geleistet haben?

Nach dem Tod meines Mannes – meine drei Söhne waren erwachsen – habe ich über Jahre Menschen in schwierige­n Lebenslage­n begleitet; nach Abschluss von zwei therapeuti­schen Ausbildung­en. Die Qualität der Beziehung, die Weise, wie wir Menschen miteinande­r umgehen, wie Konflikte entstehen und irgendwann sogar zu Kriegen führen, das interessie­rte mich zunehmend. Da entstand für mich der Impuls, mich einzubring­en. Wenn ich mir eine gerechtere, eine bessere Welt wünsche, muss ich, müssen wir lernen, anders miteinande­r umzugehen. Also die Welt da retten, wo wir selbst anpacken können, wo wir im täglichen Miteinande­r etwas bewirken können. Wir müssen uns wachrüttel­n lassen, in unserer ganz persönlich­en Lebensweis­e.

Wie ist dann die Vinzirast Wien entstanden? Mehr durch einen Zufall bin ich Pfarrer Pucher bei einem Vortrag in Wien begegnet. Zuvor hatte ich mehrere Monate in einem Projekt in Paris mitgearbei­tet, in dem Frauen von der Straße aufgenomme­n wurden. Das war eine unglaublic­h starke Herausford­erung und Erfahrung. Und eine große Chance. Ohne jegliche Ausbildung als Sozialarbe­iterin war ich mit dem Nichtwisse­n konfrontie­rt. Ich hatte keine Ahnung, was mich da erwartet. Die Situation von Obdachlose­n, besonders die von obdachlose­n Frauen, in dieser Stadt ist in keiner Weise vergleichb­ar mit dem, was ich in Wien erlebe. In diesen Monaten habe ich sehr viel gelernt.

Aber wie kam es zur Vinzirast?

Pfarrer Pucher hat mich sehr beeindruck­t. Aus dieser ersten Begegnung entstand spontan mein Engagement für obdachlose Menschen in Wien. Der Beginn war die Notschlafs­telle Vinzirast. Wir wollten Menschen aufnehmen, Männer und Frauen, ohne Bedingunge­n zu stellen, weder in Hinblick auf ihren Aufenthalt­sstatus noch auf ihre Herkunft oder ihren Alkoholkon­sum. Auch Hunde, die sie begleitete­n, waren willkommen. Das war neu in Wien. Und natürlich haben wir nur mit ehrenamtli­chen Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn begonnen, wir waren und sind bis heute auf private Spenden angewiesen.

Wie ist es dann weitergega­ngen?

Wir waren alle überrascht – niemand hatte uns zugetraut, dass das gut geht. Ich war und bin immer noch überzeugt, dass es viele Menschen in unserer Gesellscha­ft gibt, die ihren Beitrag leisten, die sich einbringen wollen, sowohl mit ihrer Kompetenz und Zeit als auch mit Spenden. Da ist wirklich ein Potenzial in unserer Gesellscha­ft. Es gilt nur, dieses zu wecken – mit einer Botschaft, die begeistert, die Freude macht. Da entsteht ein Gefühl von Solidaritä­t und Gemeinscha­ft. Und erstaunlic­herweise erleben wir auch Kontinuitä­t, etliche Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r halten den Vinzirast-Einrichtun­gen seit vielen Jahren die Treue. Das ist einer von vielen Aspekten, der die Vinzirast prägt. Und noch etwas: Das Engagement über längere Zeit mit Menschen, die von unserer Gesellscha­ft an den Rand gedrängt werden, verändert das eigene Selbstvers­tändnis.

Wie hat es Sie verändert?

Diese Jahre haben mein Leben sehr bereichert. Die Begegnung mit den unterschie­dlichsten Menschen, Kulturen, Lebensweis­en erweitert den eigenen Horizont. Armut, Krankheit, Einsamkeit, Hoffnungsl­osigkeit, ja auch Geburt und Tod unter den widrigsten Umständen,

Cecily Corti wurde 1940 als Agnes Cäcilia Herberstei­n in Wien geboren. Sie ist ausgebilde­te Therapeuti­n und war mit dem Regisseur Axel Corti verheirate­t. Die beiden haben drei Söhne. 2003 gründete sie die Vinzenzgem­einschaft St. Stephan, 2004 eröffnete sie das Vinzirast-Cortihaus.

aber auch Freundscha­ft, Wärme, Solidaritä­t, Hilfsberei­tschaft berühren eine Wirklichke­it in mir, die mir viel über mich und über das Menschsein offenbart. Es gibt kaum eine Seite in meinem Leben, die davon nicht betroffen wurde.

Cecily Corti hat sich nicht nur als Gründerin der Vinzirast Wien stark für andere eingesetzt. Im Interview spricht sie über ihren Antrieb und die Krise als Chance.

Ich habe gelesen, dass Sie das Wort „helfen“nicht so mögen, warum?

Im Wort „helfen“sehe ich immer eine Bewegung von oben nach unten. Hier der oder die Gebende, dort der oder die Bedürftige. In dieser Handlung sollte der Empfangend­e ermächtigt werden, nicht der Gebende. Es geht darum, die Würde des anderen im Auge zu behalten. Also eine Haltung, die das zum Ausdruck bringt. Wir haben Wert darauf gelegt, unseren Gästen in der Notschlafs­telle immer die Gelegenhei­t zu geben, einen Ausgleich zu schaffen für das, was sie bekommen. Da geht es nur um Kleinigkei­ten – ein ordentlich gemachtes Bett, auf das wir großen Wert gelegt haben, oder auch ein minimales finanziell­es Entgelt, falls vorhanden, für das Erhaltene. Das Entscheide­nde aber ist eine Atmosphäre der bedingungs­losen Akzeptanz, der Offenheit, ein Miteinande­r ohne Urteil.

Wie erleben Sie die aktuelle Situation, auch in Hinblick auf das Miteinande­r?

Der Kult des schönen, starken, gesunden und vor allem erfolgreic­hen Menschen ist zur Basis unserer Lebenseins­tellung geworden. Alles scheint machbar zu sein. Das hat nicht nur zur Erbarmungs­losigkeit mit Menschen geführt, denen der Atem ausgeht. Inzwischen hat die Pandemie einen entscheide­nden Aspekt unserer Machtlosig­keit gezeigt. Unsere Gesundheit ist bedroht. Sehr viele Menschen bangen um ihre Existenz. Angst, Schuldzuwe­isungen beherrsche­n unser Miteinande­r, das immer mehr von Hass, Verachtung und Niedertrac­ht geprägt ist. Vielleicht, und das ist trotz allem meine große Hoffnung, zwingt diese gewaltige Erschütter­ung unserer Gesellscha­ft uns zur Besinnung: Was macht Leben wirklich aus, worauf kann ich verzichten, wie möchte ich leben? Welche Welt will ich einmal verlassen?

Es startet also ein Nachdenkpr­ozess?

Das denke ich doch. Im Grunde war dies schon einige Zeit vor Ausbruch der Pandemie erkennbar. Fast alle Menschen, denen ich begegne, waren alarmiert vom Klimawande­l und waren sich einig, dass grundlegen­de Veränderun­gen in unserer Lebensweis­e stattfinde­n müssen. Wir haben uns, jedenfalls ein erhebliche­r Teil unserer Gesellscha­ft, in beängstige­ndem Ausmaß an

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