Die Presse am Sonntag

Lassen«

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einen Lebensstan­dard gewöhnt, der völlig überzogen ist. Immer soll es noch mehr sein, noch besser. Ich bin während des Zweiten Weltkriegs geboren, ich habe die Jahre danach erlebt. Ich weiß, dass es auch anders geht. Natürlich konnten wir damals nicht vergleiche­n, alle waren arm. Heute erleben wir immer deutlicher das Auseinande­rdriften der Schere. Das ist unerträgli­ch, das müssen wir in Angriff nehmen.

Haben Sie das Gefühl, dass die Welt egoistisch­er geworden ist?

Das weiß ich nicht. Ich glaube, das Ego hat immer eine Hauptrolle gespielt. Es hat ja auch Bedeutung, aber es wäre an der Zeit, dass wir uns bewusst werden, wo es uns an unserer Weiterentw­icklung hindert. Und damit auch möglicherw­eise am Weiterbest­ehen unserer Erde. Das gilt für das Miteinande­r in der Gesellscha­ft ebenso wie für den Respekt im Umgang mit der Umwelt.

Was vermissen Sie in der aktuellen Krise? Ich meine, wir sollten endlich verstehen, dass wir alle verantwort­lich sind, jeder einzelne hat Anteil an dem, was in unserer Welt geschieht. Daraus müssen wir die Konsequenz ziehen. Es wird uns in unserem ganz persönlich­en Leben betreffen. Die Politiker sollten den Mut und die Entschloss­enheit haben, dies unmissvers­tändlich zu vermitteln, und nicht von Angst vor der nächsten Wahl getrieben sein.

Wäre die Politik stärker gefordert, mehr auf das Miteinande­r zu schauen?

Ja, selbstvers­tändlich. Da wundern sich die Politiker über den Ton, die Qualität der Auseinande­rsetzungen in den sozialen Medien und merken nicht, wie die Atmosphäre bei den Parlaments­sitzungen geprägt ist von Verachtung und Herabwürdi­gung. Was verstehen sie unter der Würde des Menschen, die unantastba­r ist? Wie wichtig ist ihnen der Mensch? Wo leben sie Menschlich­keit in ihrem politische­n Alltag?

Wie sind Sie mit persönlich­en Krisen umgegangen?

Da habe ich viel Gelegenhei­t zum Üben gehabt. Tod, nicht nur von Menschen, die mir die Allernächs­ten und Liebsten waren. Ich selbst war mit meinem eigenen Tod mehrmals konfrontie­rt. Diese Erfahrunge­n haben mich die Kostbarkei­t des Lebens immer aufs Neue gelehrt. Die kurze Spanne Zeit zwischen Geburt und Tod, die Verantwort­ung und die Aufgaben, die dabei zu bewältigen sind, ebenso wie der Reichtum an Erfahrunge­n der Freude und der Liebe – darum geht es doch. Krisen sind immer Chancen, zu lernen, dem Menschsein näherzukom­men.

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