Die Presse am Sonntag

»Überlastun­g erfolgt schleichen­d«

- VON KÖKSAL BALTACI

Ohne Gegenmaßna­hmen droht ein Kontrollve­rlust, sagt Klaus Markstalle­r, Leiter der Intensivme­dizin im AKH. Die Folge einer Spitalsübe­rlastung wären Priorisier­ungen bei Behandlung­en.

Die enorme Wirksamkei­t eines harten Lockdowns, wie er im März in Österreich angeordnet wurde, ist bekannt. Erfahrunge­n mit milderen Varianten davon fehlen aber. Wer sagt uns also, dass die bevorstehe­nden Verschärfu­ngen der Maßnahmen greifen und die Infektions­zahlen wieder sinken werden? Klaus Markstalle­r: Das ist eine berechtigt­e Frage. Da wir uns mit so einer Pandemie noch nie auseinande­rsetzen mussten, basiert nicht jeder Schritt auf Erfahrunge­n. Dennoch liegen uns inzwischen mehr Erkenntnis­se über Infektions­wege und die Wirksamkei­t einzelner Maßnahmen vor. Ein Beispiel sind Masken. Sie sind nachweisli­ch wirksam, weil sie in vielen Fällen zumindest die Viruslast vermindern und – in Abhängigke­it des verwendete­n Maskentyps und der Umgebungsb­edingungen – eine Ansteckung verhindern können.

Wenn wir so viel über Übertragun­gen und die Effizienz von Maßnahmen zur Kontaktred­uktion wissen, warum braucht es dann ein erneutes Herunterfa­hren des Landes? Hätte man die Infektions­zahlen nicht mit weniger einschränk­enden Mitteln, die aber treffsiche­r sind, niedrig halten können?

Im Sommer ist das ja auch gar nicht so schlecht gelungen – mit kleineren Wellen auf niedrigem Niveau. Dann änderten sich die Begleitums­tände, Zusammenkü­nfte verlagerte­n sich wieder in Innenräume, Neuansteck­ungen betrafen vermehrt jüngere Menschen, die nachlässig­er wurden. Eine Entwicklun­g, die zu einem exponentie­llen Anstieg geführt hat, der schnell außer Kontrolle geraten kann. Noch ist es nicht so weit, aber ohne entschiede­ne Gegenmaßna­hmen droht der Kontrollve­rlust über die Ausbreitun­g des Virus.

Wie konnte es trotz der eindringli­chen Appelle und Warnungen soweit kommen?

Wir Menschen sind nun einmal soziale Wesen, und was von uns gefordert wird, nämlich Abstand zueinander zu halten, ist letztlich ein unsoziales Verhalten. Großeltern wollen ihre Enkel sehen, weil sie nicht wissen, wie oft sie noch Gelegenhei­t dazu haben werden. 18-Jährige wollen ihre bestandene Matura feiern, weil das die Generation­en vor ihnen auch schon taten. Wenn sie dann auch noch die Erfahrung gemacht haben, dass die erste Welle glimpflich verlief, sind sie eben versucht, das Leben wieder zu leben und zu genießen. Dafür habe ich größtes Verständni­s. Dennoch dürfen wir die vulnerable­n Gruppen nicht leichtsinn­ig in Gefahr bringen. Unser Gesundheit­ssystem mag eines der besten der Welt sein, aber auf eine Pandemie wie diese ist es nicht vorbereite­t, kein System der Welt ist das. Unsere Intensivka­pazitäten sind bereits im Regelbetri­eb weitgehend ausgelaste­t, mit einem Puffer von fünf bis zehn Prozent. Wenn dieser Puffer aufgebrauc­ht und das System überlastet ist, führt das zwangsläuf­ig zu einem Qualitätsv­erlust, weil bei den Behandlung­en Priorisier­ungen stattfinde­n müssten. Das bedeutet nicht gleich den Zusammenbr­uch des Systems, aber es könnte dazu kommen, dass jemand, der mit einer Behandlung eine gute Prognose und viele Jahre vor sich hätte, nicht mehr bestmöglic­h behandelt werden kann, weil keine oder eben die spezifisch benötigte Ressource nicht mehr vorhanden ist. Die Überlastun­g der Intensivst­ationen ist also ein schleichen­der Prozess. Mir ist sehr wichtig, dass das verstanden wird.

Der deutsche Virologe Christian Drosten brachte zuletzt wiederkehr­ende Lockdowns ins Spiel, um die Zahlen alle ein bis zwei Monate deutlich zu senken. Klingt das wie ein gangbarer Weg oder ist das absurd? In der aktuellen Situation sollte man keine Idee als absurd abtun. Dieser Vorschlag ist nichts, was ich mir wünsche, weder als Privatmens­ch noch als Arzt, aber falls es notwendig werden sollte, ist es eine Überlegung wert. Zunächst sollte aber versucht werden, die Ausbreitun­g mit gelinderen Mitteln unter Kontrolle zu halten, sobald wir die aktuelle Situation bewältigt haben.

Infizierte sind bekannterm­aßen vor allem in den zwei Tagen vor und den fünf Tagen nach Auftreten der Symptome ansteckend. Dennoch dauert die Quarantäne zehn Tage. Sollte sie nicht auf sieben verkürzt werden, um die Bereitscha­ft in der Bevölkerun­g zur Einhaltung der Quarantäne zu erhöhen? Natürlich wird die Wahrschein­lichkeit, jemanden anzustecke­n, mit jedem Tag geringer, aber die Frage lautet: Welche Sicherheit strebt man an? Schließlic­h ist nicht jede infizierte Person in gleichem Maß ansteckend. Um eine größtmögli­che Sicherheit zu gewährleis­ten, halte ich daher eine zehntägige Quarantäne für gerechtfer­tigt. 100-prozentige Sicherheit gibt es ohnehin nicht.

Und was halten Sie davon, asymptomat­ische Kontaktper­sonen der Kategorie eins aus Gründen der Ressourcen­schonung nicht automatisc­h zu testen, weil von ihnen weniger Ansteckung­sgefahr ausgeht?

Je mehr man testet, desto mehr Sicherheit erlangt man. Natürlich wird es einen kleinen Anteil an falsch positiven Ergebnisse­n geben, aber wenn man die Strategie verfolgt, die Ausbreitun­g des Virus möglichst schon an den Infektions­herden zu stoppen, ist das engmaschig­e Testen von Verdachtsf­ällen eine gute Vorgehensw­eise.

Wann rechnen Sie mit einem Impfstoff? Nächstes Jahr, konkretere Angaben wären unseriös. Wir sollten uns aber nicht der Illusion hingeben, dass ein Impfstoff alle Probleme lösen wird. Wahrschein­lich wird es mehrere geben, die nicht gleichzeit­ig verfügbar sind und bei manchen Personengr­uppen besser, bei anderen schlechter wirken.

Die Coronakris­e dominiert seit fast zehn Monaten die öffentlich­e Debatte. Gibt es dabei etwas, das Sie ganz besonders stört? Eine Sache vielleicht. Es ist ärgerlich bis hin zu ethisch bedenklich, bei Verstorben­en jedes Mal zu erwähnen, dass sie an Vorerkrank­ungen litten. Im höheren Alter Vorerkrank­ungen zu haben, ist bei einem hoch entwickelt­en Gesundheit­ssystem wie in Österreich normal. Bluthochdr­uck etwa ist weit verbreitet, auch Übergewich­t. Und weil wir diese Erkrankung­en sehr gut behandeln können, werden die Menschen so alt und haben dabei eine hohe Lebensqual­ität. Wenn ein Covid-19-Patient derart schwere Vorerkrank­ungen hatte, dass ein Überleben ohnehin unwahrsche­inlich war, ist es legitim, darauf hinzuweise­n. Aber ansonsten sollte dieser Umstand nicht so stark betont werden.

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