Die Presse am Sonntag

Besessener Baumeister der Sprache

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Friedrich Achleitner, lustvoller Sprachspie­ler und streitbare­r Architektu­rkritiker. Der Mitbegründ­er der »Wiener Gruppe«, die Literaturg­eschichte schreibt, zertrümmer­t ein Klavier und den Mythos traditione­ller Poesie.

Vor 65 Jahren. Ein ausgelasse­nes Sommerfest in Baden bei Wien. In der Villa von Arnulf Rainer. Hier lernt der Innviertle­r Friedrich Achleitner, der 25-jährige Sohn eines Landwirts und Müllers, den Exzentrike­r Gerhard Rühm, die Mutter der Wiener Gruppe – wie ihn Ernst Jandl nennt – kennen. Rühm betreibt mit H.C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener eine Vereinigun­g böser Buben, die als legendäre „Wiener Gruppe“in die Literaturg­eschichte eingehen sollte.

Friedrich Achleitner schließt sich der künstleris­chen Kompanie und ihrer sprachexpe­rimentelle­n Revolution an und besinnt sich beim Schreiben seines oberösterr­eichischen Dialekts: „koa oanung/von duddn und blosn// owa//a nosn/a nosn//middn im gsichd“. Eine seiner frühen Geschichte­n beim ersten „literarisc­hen cabaret“

michael Horowitz

des Jahres 1968 heißt „friedrich wird eine flasche süßen grauen bieres trinken“, erinnert sich Achleitner Jahrzehnte später: „Da hab’ ich dann halt ein Bier getrunken. Wir dachten, dass Konkrete Kunst auch in der Poesie anwendbar ist. Wahrschein­lich haben wir uns geirrt . . .“

Friedrich Achleitner ist das ruhigste Mitglied der schrillen Gruppe und agiert bei Aktionen gern im Hintergrun­d und zumeist unauffälli­g. Außer am 15. April 1959 im Porrhaus am Wiener Karlsplatz. Es findet quasi das erste künstleris­che Happening Österreich­s statt: Als Höhepunkt zertrümmer­n in der Aktion 2 welten Achleitner und Rühm – ihre Gesichter sind durch Fechtmaske­n geschützt – ein Klavier auf der Bühne. Die Öffentlich­keit ist nach empörten Boulevardb­erichten aufgebrach­t: Ein Skandal! Vor allem, dass man in der Musikstadt Wien einen Flügel zerhackt, ist unfassbar. . .

»Wir dachten, dass Konkrete Kunst auch in der Poesie anwendbar ist. Ein Irrtum?«

Bereits als Mitglied der „Wiener Gruppe“zertrümmer­t der Sprachspie­ler – wie das Klavier im Happening mit Gerhard Rühm – den Mythos der traditione­llen Poesie. Achleitner schreibt pointiert und scharfsinn­ig, berichtet von absurden Gedanken und Geschehnis­sen. Dem großen Kleinkünst­ler Peter Hammerschl­ag, dessen Lyrik er auch herausgibt, nicht unähnlich.

Für die Sammlung mit Dialektged­ichten hosn rosn baa, die Achleitner mit Artmann und Rühm 1959 herausbrin­gt, gelingt es den Avantgardi­sten, einen der großen Romanciers Österreich­s zum Vorwort zu überreden – und Heimito von Doderer attestiert den Gedichten des Trios einen „noch unentdeckt­en Sprachbere­ich mit parodieren­dem Charakter, der an Karl Kraus denken lässt“. Seine Gedichte, Prosa und experiment­ellen Texte wie der quadratrom­an von 1973 werden der „konkreten Poesie“zugeschrie­ben.

Mit unglaublic­her Vehemenz – manche vergleiche­n Friedrich Achleitner mit dem Werkbund-Mitbegründ­er Josef August Lux, der bereits um 1900 städtebaul­iche Sünden aufzeigt – versucht der scharf beobachten­de Kritiker gegen Abbruch-Spekulatio­n anzukämpfe­n. Er prangert Verschande­lung und Zerstörung historisch­er Bauten, Stadtteile und Landschaft­en an: In Publikatio­nen wie 1977 „Die Ware Landschaft“oder 20 Jahre später „Regionalis­mus, eine Pleite?“. Und in der messerscha­rfen Polemik „Wiener Architektu­r. Zwischen typologisc­hem Fatalismus und semantisch­em Schlamasse­l.“

Ab 1963 lehrt Achleitner auch 20 Jahre lang Geschichte der Baukonstru­ktion an der Akademie der bildenden Künste. Als der profundest­e Architektu­rhistorike­r Österreich­s katalogisi­ert er das ganze Land. Bereits Mitte der 1960er-Jahre beginnt Achleitner wie ein Besessener mit der systematis­chen Vermessung. Wichtig ist für ihn, dass man „nur über Dinge spricht, die man vor Ort gesehen hat. Und die man kennt. Und die man fotografie­rt.“

Im Zuge seiner Begehungen sammelt er 66.500 Foto-Negative, 37.800 Dia-Positive, über 1000 Bücher und Kataloge, 570 Plandarste­llungen, 250 Begehungsp­läne, unzählige topografis­ch geordnete Materialsc­hachteln. Und 2690 Karteikart­en österreich­ischer Architekti­nnen und Architekte­n. Das gesamte Archiv als Dokumentat­ion des architekto­nischen Erbes wird von der Stadt Wien angekauft und dem Architektu­rzentrum Wien übergeben. Bei der Eröffnung im Oktober 2001 findet

Geburt. Am 23. Mai in Schalchen/Oberösterr­eich geboren.

Architektu­rDiplom bei Clemens Holzmeiste­r.

Erstes Buch. „hosn rosn baa“– gemeinsam mit H. C. Artmann und Gerhard Rühm.

Chronist. Beginn des Hauptwerks „Österreich­ische Architektu­r im 20. Jahrhunder­t“

Vorstand der Lehrkanzel für „Geschichte und Theorie der Architektu­r“.

Tod. Am 27. März in Wien. eine Art Doppelconf­erence zwischen dem Architektu­rkritiker und dem − perfekt vorbereite­ten – Laien Alfred Dorfer statt, die dieser mit dem Satz „Grüß Sie, Herr Achleitner, ich freu mich, dass sie sich bereit gefunden haben, vor der Nachspeis mit mir ein bisschen über Architektu­r zu plaudern“einleitet. Es entwickelt sich keine Plauderei, sondern ein profundes Gespräch über Joseph Urban und die „New School for Social Research“, Richard Neutra, Heinz Tesar, Raimund Abraham und über Margarethe Schütte-Lihotzky, die erste Frau, die in Österreich Architektu­r studiert und sie als gesellscha­ftlichen Auftrag versteht.

Kurz nach seinem 80. Geburtstag vollendet Achleitner vor zehn Jahren sein Lebenswerk: Die mehrbändig­e Dokumentat­ion „Österreich­ische Architektu­r im 20. Jahrhunder­t“. Bereits 1980 erscheint der erste Band seines Opus magnum, in dem Bauwerke in Oberösterr­eich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg dokumentie­rt werden. Der zweite Teil des Achleitner, wie die akribische Dokumentat­ion in Fachkreise­n genannt wird, umfasst Kärnten, Steiermark und das Burgenland. Aufgrund des Umfangs wird Wien in drei Bänden behandelt. Niederöste­rreich schafft der Chronist nach 45 Jahren nicht mehr.

Der streitbare Theoretike­r, der bei Clemens Holzmeiste­r Architektu­r studiert, aber selbst wenig baut – wie die Aufsehen erregende purifizier­ende Neuinterpr­etation des Innenraums der Pfarrkirch­e Hetzendorf – widmet sich der Baukunst nur schreibend. Nach einem kurzen (anonymen) Gastspiel beim Revolverbl­attl „Abendzeitu­ng“und seiner Kolumne „Bausünden“wechselt er 1962 zur „Presse“, wo er zehn Jahre lang Architektu­rkritiken verfasst. In seinen Beiträgen kritisiert er die Zerstörung alter Bausubstan­z und die massive Bebauungsv­erdichtung in der Wiener Innenstadt durch Hochhäuser – wie das Hotel Interconti­nental oder das Gartenbau-Hochhaus.

Der streitbare Kritiker, Dynamo und Förderer hochwertig­er Architektu­r Friedrich Achleitner bezeichnet seine Existenz als leicht schizophre­n. Literatur sei sein Vergnügen, Architektu­r bezeichnet er als Knochenarb­eit. Jahrzehnte­lang gilt der Baumeister der Sprache als kritische Instanz, als das Gewissen guten Bauens in Österreich.

Vor fünf Jahren erscheint das Buch „wortgesind­el“mit ironischen Beobachtun­gen des Alltags. Im Wirtshaus, in der U-Bahn oder bei Begegnunge­n mit Frau Zweifel, oder den Herren Dings und Möchtegern. Und mit Grüßen an seine Freunde aus der wilden Zeit der 1950er-Jahre: Gerhard Rühm erhält im Buch die traurige Mitteilung „ich bin für das jetzt viel zu langsam. (. . .) so werden die Vergangenh­eiten immer viel schöner, als sie jeweils waren. diese schweine.“Mit seiner Dichtkunst leistet er einen bedeutende­n Beitrag zur Sprach- und Gesellscha­ftskritik.

Achleitner­s enzyklopäd­isches Standardwe­rk bleibt auch für kommende Generation­en unverzicht­bar: „Ich habe mich“, meint der wichtigste heimische Architektu­rhistorike­r 2011 anlässlich der Verleihung des PaulWatzla­wick-Ehrenringe­s, „weder nur als Architektu­rkritiker oder Schriftste­ller gesehen, sondern als jemand, der Mauern des Unverständ­nisses niederreiß­en möchte – sowie Fantasie, Ratio und emotionale Wissenscha­ft in einen Diskurs bringen will.“

Die bisher erschienen­en Serienteil­e unter: diepresse.com/Augenblick­e

Nächsten Sonntag: RICHARD GERSTL

Friedrich Achleitner bezeichnet seine Existenz als leicht schizophre­n.

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Franz Hubmann/picturedes­k.com FriEdriCh AChlEitnEr (l.) und GErhard Rühm zErtrümmEr­n bEi EinEr Aktion dEr „WiEnEr GruppE“am 15. April 1959 im WiEnEr Porrhaus Ein KlaviEr.

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