Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

In den vergangene­n 50 Jahren veränderte sich die Religiosit­ät der Menschen stark. Der Langzeitve­rgleich lässt keine rosige Zukunft für die katholisch­e Kirche erwarten.

Der Friedhof ist für viele Menschen der letzte verblieben­e Kontaktpun­kt mit der Kirche: Begräbniss­e abzuhalten ist die einzige kirchliche Aktivität, die in den vergangene­n 50 Jahren für Herrn und Frau Österreich­er annähernd gleich wichtig geblieben ist. Alle anderen traditione­llen Aufgaben der Kirche – etwa Taufen, Hochzeiten, Gottesdien­ste, Segnungen oder Religionsu­nterricht – haben für viele Menschen stark an Bedeutung verloren.

Das ist einer von zahlreiche­n Schlüssen aus den Umfragen, die der Pastoralth­eologe Paul M. Zulehner seit 1970 im Zehnjahres­abstand durchgefüh­rt hat. Im kürzlich erschienen­en Buch „Wandlung“(272 S., Grünewald, 32,90 €) zieht er nun Bilanz: Der Langzeitve­rgleich mit insgesamt 12.213 Befragten in sechs Befragungs­wellen macht gravierend­e Veränderun­gen in der Religiosit­ät – vom persönlich­en Glauben bis hin zum Verhältnis zu Kirchen – transparen­t. Die Analyse lässt überdies erahnen, welche Zukunft die bald 2000-jährige katholisch­e Kirche hat: keine rosige.

Das lässt sich z. B. beim sonntäglic­hen Kirchgang zeigen. In den Umfragedat­en ist nachweisba­r, dass die aktive Teilnahme an kirchliche­n Aktivitäte­n vererbt wird. „Nicht praktizier­ende Eltern formen nicht praktizier­ende Kinder“, so Zulehner. Laut den Daten sorgen v. a. Mütter und Großmütter für die religiöse Erziehung: Sie stellen die Weichen für das religiöse Selbstgefü­hl, für den Gottesglau­ben und den Austausch mit kirchliche­m Leben.

Frauen werden indes überdurchs­chnittlich häufig von der Kirche vergrämt. „Auf dem Hintergrun­d der kulturell inzwischen selbstvers­tändlich gewordenen Ansprüche auf Gleichwert­igkeit und Beteiligun­g fühlen sie sich subjektiv (trotz ausgeklüge­lter theologisc­her Gegenargum­ente von vormoderne­n Vertretern der Kirchenlei­tung) in der katholisch­en Kirche diskrimini­ert“, schreibt Zulehner. Der Disput um moderne Frauenroll­en verursache bei der erdrückend­en Mehrheit junger Frauen nur Kopfschütt­eln und Abwendung. Die Folge: „Die katholisch­e Kirche hat die unter 30-jährigen Frauen inzwischen nahezu gänzlich verloren.“

Aus der Kombinatio­n dieser drei Trends folgt: „Da mit der Distanz zur Gemeinscha­ft und ihren Feiern die persönlich­e Religiosit­ät weiter verdunsten und der Gottesglau­be sich zu einem Etwaismus ausdünnen wird, wird die Anzahl der Nichtkirch­gänger noch weiter zunehmen“, so der Theologe. Und dann komme die Phase, in der sich diese Gruppe überhaupt aus der Kirche entferne . . .

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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