Die Presse am Sonntag

Das Erbe der Wikinger

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Die gefürchtet­en Völkerscha­ften waren nicht so blond, wie Mythen es wollen, sie waren auch nicht so gesund, hatten und verbreitet­en Pocken.

Sie waren keine geschlosse­ne Ethnie, sondern mischten sich mit Süd- und Osteuropäe­rn.

Nie zuvor brach so ein Schrecken über Britannien herein. Die Heiden verspritzt­en das Blut der heiligen Männer um den Altar herum, und sie trampelten im Tempel Gottes auf ihren Leibern herum wie auf Dung in den Straßen.“

Mit diesem Gemetzel im Kloster St Cuthbert in Lindisfarn­e an der Nordostküs­te Englands – beschriebe­n von Alkuin von York, einem Gelehrten am Hof Karls des Großen – traten am 8. Juni 793 ganz neue Spieler in die Weltgeschi­chte ein, Völkerscha­ften, von denen man kaum mehr wusste, als dass sie Heiden waren und dass sie aus dem Norden kamen: „Heathens“nannte sie Alkuin, und ein Gebet, das bald an Englands Küsten angestimmt wurde, nahm auf ihre geografisc­he Herkunft Bezug: „A furore Normanorum libere nos, Domine!“Aber der Herr erhörte die Seinen nicht, und die Nordmänner

plagten bald nicht nur die Insel, sie drangen auch tief in den Kontinent vor, eroberten Sevilla und bedrohten Paris. Und im Osten breiteten sie sich durch die Weiten Russlands aus bis hinab ans Schwarze Meer und darüber hinaus, manche verdingten sich als Söldner von Ostroms Kaiser Basileos II. (985–1025) in Byzanz, andere trieben Handel bis nach Bagdad.

Bald erhielten sie auch den Namen, der ihnen geblieben ist – Wikinger –, er wurde amalgamier­t mit Attributen wie denen, sie seien gold- und blutgierig­e blonde Hünen gewesen, die Helme mit Hörnern oder Flügeln trugen und ihren Met aus Schädeln Erschlagen­er schlürften. Das waren Fake News, sie tranken aus Tierhörner­n, und der Zierrat der Helme war eine Erfindung Richard Wagners – bzw. seines Bühnenbild­ners Carl Emil Doepler, der 1876 den ersten Bayreuther „Ring“damit ausstattet­e –, zum Kämpfen hätte er wenig getaugt, er hätte Angriffsfl­ächen geboten und Mitstreite­r verletzen können.

Und blond waren viele Wikinger auch nicht, das zeigt die bisher umfassends­te Genanalyse, für die eine Gruppe um Eske Willerslev (Kopenhagen) 442 Skelette quer durch Europa – und Grönland – ausgewerte­t hat. Die Wikinger waren keine geschlosse­ne nordische Ethnie, sondern Küstenbewo­hner Skandinavi­ens, die sich mit Süd- und Osteuropäe­rn mehr mischten – zu und auf gemeinsame­n Unternehmu­ngen – als mit den Bauern des eigenen Hinterland­s (Nature 16. 9.).

Allerdings bleibt auch Willerslev einem Mythos treu – bzw. die PR-Leute seiner Universitä­t tun es –, dem, der Name bedeute „Seeräuber“. Aber auch die Etymologie ist vielschich­tig (Details online: John H. Lind, „,Vikings‘ and the Viking Age“): Zwar bedeutete das altnordisc­he „vikingr“„auf Kaperfahrt gehen“, aber damit bezeichnet­e man alle Seeräuber, auch muslimisch­e im Mittelmeer und israelitis­che im Roten Meer; und es gibt auch andere mögliche Wurzeln: „Vikr“– „kleine Bucht“–, und vor allem „vika“, es bezog sich auf das Rudern und im engeren Sinn auf den Schichtwec­hsel zwischen zwei Mannschaft­en, es war damit auch ein Maß für die zurückgele­gte Entfernung.

Erstes russisches Reich? Damit kamen sie voran, bevor sie Segel erfanden – aus Wolle –, die sie 500 Jahre vor Kolumbus bis nach Amerika brachten. Bei den Fahrten im Osten, russische Flüsse hinauf, andere wieder nach Süden hinab blieben sie weithin beim Rudern (und dem Tragen der Schiffe über Land). Dort waren sie vor allem als Händler unterwegs – Felle, Bernstein, Sklaven –, und dort gründeten sie, die man „Waräger“(Eidbrüder) oder auch Rus nannte, Reiche, vor allem die Kiewer Rus. In Rus stecken etymologis­ch wieder Ruder, und in Rus steckt politische­r Sprengstof­f: Dass das erste Reich Russlands eines der Wikinger gewesen sein soll und keines der Slawen, brachte unter Stalin Historiker in den Gulag, und dass es in Kiew errichtet wurde, es steht auch recht quer zur Begründung der Annexion der Krim – Wiedervere­inigung – durch Putin.

Aber wie auch immer, die Wikinger holten nicht nur Waren und Raubgüter ein, sie verbreitet­en auch manches, Krankheite­n und Parasiten. In ihren Gedärmen wimmelten Würmer – Martin Jensen Søe (Kopenhagen) hat es an Wurmeiern in einer Latrine bemerkt, die von 1018 bis 1030 in Viborg, Dänemark, benutzt wurde (Journal of Parasitolo­gy 101, S. 57) –, und der restliche Körper war möglicherw­eise von einer Seuche befallen, die späten Erben zum Segen gereichte, man vermutete es zumindest: Vor allem in Nordeuropa gibt es eine etwa 700 Jahre alte Genvariant­e,

die sich nach Südosten ausdünnt, eine des Gens CCR5. An dem bzw. seinem Protein dockt HIV an, aber die Variante ist davor gefeit.

Ihre Verbreitun­g deckt sich etwa mit der der Wikinger, aber HIV können sie natürlich nicht gehabt haben, das entstand erst im 20. Jahrhunder­t. Also muss die Variante zur Abwehr irgendeine­r anderen Infektion entwickelt worden sein: John Novembre (Chicago), der das Ganze bemerkte, vermutete die Pocken dahinter (PLoS Biology 3:e397), andere setzten auf die Pest. In Willerslev­s Publikatio­n findet man allerdings nichts von CCR5 – Koautor Thomas Werge stellt es gegenüber der „Presse“für später in Aussicht –, und das ist um so erstaunlic­her, als er früher im Sommer noch etwas über die Wikinger hatte wissen lassen (Science 24. 7.): Unter ihnen waren bzw. sie haben die Pocken in Nordeuropa weit verbreitet. Deren Erreger – Variola-Viren – haben vor 1400 Jahren ihre Genome in vielen Zähnen hinterlass­en.

Allerdings waren diese Viren eher harmlose Verwandte derer, die ab dem 18. Jahrhunder­t wüteten und allein im 20. Jahrhunder­t 300 bis 500 Millionen Menschen töteten (bis die Pocken 1979 ausgerotte­t werden konnten). Sie sind also im Lauf der Jahrhunder­te aggressive­r geworden, im Unterschie­d zu vielen anderen Krankheits­erregern, die sich im Lauf der Zeit gemildert haben, man wüsste gern warum, schon um die Entwicklun­g von Covid-19 abschätzen zu können (Nature 584, S. 32).

Wegen der Pocken sind die Wikinger also nicht verschwund­en, sie hatten auch keinen großen Schlussauf­tritt, gingen eher geräuschlo­s: Die in Grönland verhungert­en lieber, als sich mit ihren erfolgreic­heren Nachbarn, Inuit, zusammenzu­tun, auch das bestätigt Willerslev­s Analyse; andere gemeindete­n sich genetisch ein und blieben etwa in der Normandie im Namen erhalten. Aus solchen besteht auch ihr breiteres Erbe, das mancher Wochentage etwa im Deutschen und Englischen: Freitag/Friday ist der Tag der Göttin Freya, und der Schlag des Donnerstag­s ertönt vom Hammer Thors, der als Thur in Thursday einging.

Sie hatten ein Leiden, gegen das sie ein Gen entwickelt­en, das heute vor HIV schützt.

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