»Ich habe 20 Jahre meinen Traum gelebt«
Jürgen Melzer, 39, beendet Anfang 2021 seine Karriere und wird Sportdirektor des ÖTV. Ein Gespräch über Fehler, Freundschaften und eine Party im Juli 2000.
Sie haben vor wenigen Tagen Ihr Karriereende für Jänner 2021 angekündigt. Was ist Ihnen seitdem durch den Kopf gegangen? Jürgen Melzer: Es auszusprechen hatte schon etwas Befreiendes. In den vergangenen Monaten ist doch einiges in meinem Kopf herumgeschwirrt. Gleichzeitig verspüre ich Wehmut. Ich bin 25 Jahre durch die Weltgeschichte gereist und habe meinen Traum verfolgt. Aber wissen Sie, was schön ist?
Verraten Sie es mir bitte.
In meinen letzten Spielen als Profi geht es noch einmal richtig um etwas. Ich habe mit meinem französischen Doppelpartner E´ douard Roger-Vasselin die Chance, mich für das Masters der acht besten Paare des Jahres in London zu qualifizieren. Normalerweise hat so eine Abschiedstour doch etwas Lockeres, für uns steht beim nächstwöchigen Turnier in Paris aber viel auf dem Spiel. Ich verspüre nochmals so etwas wie Druck, bin am Matchtag nervös. Das taugt mir.
Im Februar wechseln Sie die Seiten, werden ÖTV-Sportdirektor. Ein Traumjob?
Es ist die höchste Position, die ich im österreichischen Tennis bekleiden kann. Ich freue mich riesig auf diese Herausforderung, verspüre große Lust, dem österreichischen Tennis und der Jugend mit meiner Erfahrung und dem Know-how zu helfen.
Sie werden als Ex-Sportler aber nicht zum Bürohengst mutieren, oder doch?
Sollte ich nur vor dem Schreibtisch sitzen, wäre ich eine absolute Fehlbesetzung. Natürlich werde ich viele Telefonate führen, den Kontakt zu den Landesverbänden suchen. Mein größter Vorteil ist aber, dass ich weiß, was es bedeutet, Tennisprofi zu sein, und was es braucht, um nach oben zu kommen. Es ist mir wichtig, viel auf dem Platz zu stehen, die Nähe zu den Jungen zu suchen. Ich will ihnen mit der richtigen Strenge den Weg weisen.
Müssten Sie denn überhaupt noch etwas arbeiten? Sie haben allein an Preisgeld über zehn Millionen Euro brutto verdient.
Das Geld ist nicht mehr zur Gänze da, ich habe zum Beispiel ein schönes Haus gebaut (lacht). Nichts zu arbeiten wäre ohnehin kein Thema für mich.
Wenn Sie Ihre Karriere betiteln müssten, wie würde die Überschrift lauten?
In der Südstadt ist im Burschenstockwerk ein riesiges Poster gehangen, auf dem stand: „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum.“Ich glaube, dass ich genau das die vergangenen 20 Jahre gemacht habe. Am Anfang war der Traum, die Nummer eins der Welt zu werden. Mit 22 geht dir so ein Spruch relativ leicht von den Lippen, aber man muss die Kirche im Dorf lassen. Ich habe es geschafft, zum Kreis der zehn besten Spieler zu zählen, in einer Weltsportart wie Tennis. Am Höhepunkt war ich die Nummer acht im Einzel und die Nummer sechs im Doppel. 2011 waren nur sieben Spieler besser als ich. Das sind nicht viele, die bringe ich alle an meinem Esstisch zusammen. Zu dieser Elite gehört zu haben macht mich schon stolz.
Sie haben viel richtig gemacht. Was haben Sie falsch gemacht?
Vieles. Die Dinge, die ich falsch gemacht habe, kann ich nicht an zwei Händen abzählen. Ich hätte mich zum Beispiel früher von meinem Langzeitcoach Karl-Heinz Wetter trennen müssen. Ich habe ihm irrsinnig viel zu ver- danken, aber nach 13 Jahren hatte sich eine gewisse Betriebsblindheit einge- schlichen. Wenn du so lang zusam- menarbeitest, ist es ja nicht mehr nur ein Spieler-Trainer-Verhältnis, es ent- wickelt sich eine Freundschaft.
Das erinnert an die Trennung von Dominic Thiem und Günter Bresnik.
Es gibt Parallelen, absolut. Ich habe Karl-Heinz lang die Stange gehalten, aber als ich eines Morgens beim Turnier in Hamburg 2007 aufgewacht bin, habe ich gewusst: „Das war’s. Ich will mich verändern.“Mit 26 Jahren war ich schließlich reif und selbstständig genug, diese Entscheidung zu treffen. Dann habe ich Joakim Nyström (ehemalige Nummer sieben, Anm.) und Jan Velthuis in mein Team geholt. Dazu hat Ronny Leitgeb mein Management übernommen. Das war ein Schritt in die oberste professionelle Liga, der mir schon zwei, drei Jahre früher gutgetan hätte.
Was hätte dieser Schritt rückblickend verändern können?
Vielleicht wäre ich ein, zwei Jahre länger in den Top Ten gestanden.
Ihre Karriere hatte gewiss einen Preis, und ich meine damit nicht die finanziellen Investitionen in den Anfangsjahren.
Ich war schon in jungen Jahren ständig unterwegs, habe eine ganz andere Jugend als meine Freunde verbracht. Abgesehen davon, dass ich meine Familie wenig gesehen habe, ist die Spontanität auf der Strecke geblieben. Wenn Freunde ein Fußballmatch geplant haben, wusste ich nie, ob ich dabei sein kann oder irgendwo bei einem Turnier bin. Ich war unheimlich unflexibel.
Gab es für Sie denn überhaupt Partys?
Ich war nie das arge Feierbiest, insofern ist mir das Fortgehen nicht abgegangen. Ich habe das Gefühl am Tag danach immer gehasst.
Wann haben Sie es denn das letzte Mal übertrieben?
Vor 20 Jahren. Meine Klassenkameraden sind auf Maturareise nach Griechenland geflogen. Ich war nicht dabei, habe stattdessen in Wimbledon die Qualifikation gespielt und sie geschafft. Nach meiner Erstrundenniederlage gegen den Australier Mark Philippoussis habe ich die Matura und die geschaffte Qualifikation im Elternhaus nachgefeiert. Das war mein letzter Rausch.
Erfolgreiche Tennisprofis wie Sie führen ein privilegiertes Leben. Waren Sie in den vergangenen 21 Jahren in einer Parallelwelt unterwegs?
Ich bin von meinen Eltern sehr bodenständig erzogen worden. Das hat mir immer dabei geholfen, Dinge richtig einordnen zu können. Ich habe nie vergessen, wo ich herkomme, weiß es bis heute zu schätzen, was ich erleben durfte und immer noch darf. Aber bevor ich in den schönen Hotels gewohnt habe, habe ich mir auf Turnieren genauso
Jürgen Melzer
wurde am 22. Mai 1981 in Wien geboren. Der Linkshänder gewann in seiner Karriere fünf ATP-Titel im Einzel (darunter zwei in Wien) und 17 im Doppel.
Auf Grand-SlamEbene erreichte
Melzer im Einzel als bestes Resultat das Halbfinale der French Open 2010. Im Doppel gewann der Niederösterreicher in Wimbledon (2010) und bei den US Open (2011) an der Seite des Deutschen Philipp Petzschner.
Nach den Australian Open 2021 wird Melzer seine Karriere beenden und ÖTVSportdirektor. ein Vierbettzimmer in Kolumbien geteilt. Das sind Erinnerungen, die dich prägen und erden.
Was hat das viele Reisen mit Ihnen gemacht?
Ich bin sehr früh sehr selbstständig geworden, habe unheimlich viele Kulturen und Länder kennengelernt – und habe dadurch eine ganz andere Weltanschauung. Bei Diskussionen treffen schon einmal Welten aufeinander.
Bleibt bei allem Konkurrenzdenken Platz für wahre Freundschaften auf der Tennistour? Definitiv. Ich habe viele Freunde gewonnen, mit meinem ehemaligen Doppelpartner Philipp Petzschner sogar einen Freund fürs Leben gefunden. Ich wurde zweimal in den Spielerrat der ATP gewählt, gemeinsam mit Roger Federer und Rafael Nadal. Das tut dem Ego schon gut.
Was werden Sie ab Februar, wenn der letzte Ball geschlagen ist, vermissen?
Ich glaube zu Beginn gar nichts – und dann irgendwann definitiv den Wettkampf. Dieses Gefühl, auf dem Platz zu stehen, dieses Kribbeln. Auch deshalb freue ich mich, zumindest noch Bundesliga spielen zu können, die Chance zu haben, mich zu messen. Und wenn es bei einer Partie Padel ist. Der Wettkämpfer in mir wird nie schlafen gehen.
Und was werden Sie nicht vermissen? Das permanente Kofferpacken.