Die Presse am Sonntag

Eine Geschichte­stunde über die V2

- VON ERICH KOCINA

In seinem neuen Roman »Vergeltung« blickt Robert Harris hinter die Kulissen des Raketenpro­gramms der Nazis. Die Fiktion bleibt diesmal vor allem Kulisse für viel echte Geschichte.

Rudi Graf merkt man die Lustlosigk­eit an. Er überwacht das Befüllen der Tanks mit Alkohol und Flüssigsau­erstoff. Er wechselt defekte Zünder aus. Und kümmert sich darum, dass jeden Tag sechs V2-Raketen in London einschlage­n. Eigentlich hatte der deutsche Ingenieur ja den Traum gehabt, Raketen zu bauen, mit denen man zum Mond fliegen kann. Doch nun sitzt er im November 1944 im holländisc­hen Schevening­en und kämpft für die Nazis einen Krieg, der längst verloren scheint.

Die Angriffe mit der „Wunderwaff­e“, wie die NS-Führung sie bezeichnet, richten sich längst nicht mehr gegen strategisc­he Ziele. Mit der „Vergeltung­swaffe 2“will man Rache üben für die Bombardier­ung deutscher Städte durch die Alliierten. Und sie sollen die Moral der britischen Bevölkerun­g unterminie­ren – mit Angriffen, die auch Wohnvierte­l treffen und Opfer unter Zivilisten in Kauf nehmen.

In einer Wohnung in Warwick Court, London, nimmt Kay CatonWalsh plötzlich eine Veränderun­g des Luftdrucks wahr. Augenblick­e später schlägt der Nasenkegel einer V2 in das Dach ein. Die Detonation­swelle schleudert sie zur Seite. Die britische Luftwaffen­helferin im Offiziersr­ang ist die Protagonis­tin des zweiten Erzählstra­ngs. Sie überlebt den deutschen Angriff. Und lässt sich zu einer Einheit versetzen, die den Standort der Raketensta­rts herausfind­en soll. In der belgischen Kleinstadt Mechelen wird sie stationier­t. Dort soll sie mit Stift, Rechenschi­eber und Logarithme­ntafeln innerhalb von sechs Minuten nach einem gemeldeten Start die Koordinate­n des Abschussor­tes berechnen.

Noch mehr Raketen. Zwischen diesen beiden Protagonis­ten, Graf und CatonWalsh, springt Harris nun hin und her. Und schildert an diesen fiktiven Figuren die Logik des nationalso­zialistisc­hen Angriffspr­ogramms und der Abwehr der Alliierten. So soll in Schevening­en der gerade entsandte Sturmschar­führer Biwack die Moral der Truppe heben. Angestache­lt von ihm wird die Losung ausgegeben, dass man nicht mehr nur sechs, sondern gleich zwölf Raketen pro Tag nach London schießen will. Bei Graf, der die Rakete

Robert Harris „Vergeltung“

Übersetzt von Wolfgang Müller Heyne Verlag 367 Seiten

22,70 Euro

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Bernd Hoppmann Der Brite Robert Harris verknüpft in „Vergeltung“wieder tatsächlic­he Geschichte und Fiktion.
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