Die Presse am Sonntag

Vom Himmel über Berlin

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R (BERLIN)

Der neue Hauptstadt­flughafen BER hat tatsächlic­h eröffnet. Ein Freudentag? Viele Berliner plagen Trennungss­chmerzen,weil der Kultflugha­fen Tegel schließt.

Der Himmel über Berlin ist wolkenverh­angen, als am Samstag, gegen 14 Uhr, zwei Flugzeuge auf den Landebahne­n des neuen Hauptstadt­flughafens BER aufsetzen. Strikt nach Drehbuch verläuft die Eröffnung nicht. Eigentlich sollten die Flieger synchron landen. Aber das Wetter spielte nicht mit. Und das passt irgendwie ins Bild.

Die Maschinen mit den Chefs von Lufthansa und Easyjet an Bord hatten sich ohnehin verspätet. Nicht um Minuten. Sondern um neun Jahre. Eigentlich hätte dieser „Fluchhafen“schon 2011 eröffnen sollen. Lange hoben nur die Baukosten ab – von zwei auf sechs Milliarden Euro. Doch an Halloween ist dieser jahrelange Geisterflu­ghafen nun also zum Leben erwacht. Eine Party gab es nicht. Und die Tragik setzt sich fort: Der BER eröffnete inmitten der größten Luftfahrtk­rise seit 1945 und keine 48 Stunden vor dem nächsten Lockdown. Fast ein Jahrzehnt lang wurden Restaurant­betreiber am BER vertröstet.

Jetzt müssen sie wieder schließen, bevor sie erstmals richtig geöffnet hatten.

Statt Euphorie beschleich­t auch viele Berliner das Gefühl zarter Trauer. Weil die Eröffnung des BER auch das Ende des zentralen Kultflugha­fens „Tegel“oder „TXL“bedeutet. Am 8. November hebt dort zum letzten Mal eine Air-France-Maschine ab. Dann ist es vorbei. Die Berliner wollten das mehrheitli­ch nicht. Sie stimmten 2017 vergeblich für den Erhalt Tegels. Die wachsende Hauptstadt brauche zwei Flughäfen, wurde argumentie­rt. In diesen Tagen finden Tegel-Souvenirs reißenden Absatz. T-Shirts werden mit dem Leitspruch „Danke Tegel“bedruckt. Man muss dazu wissen: Der (West)-Berliner pflegt ein sentimenta­les Verhältnis zu seinen Flughäfen. Warum? Die Geschichte klärt auf.

Die Luftbrücke. Als die Sowjets 1948 West-Berlin von der Außenwelt abgeschnit­ten hatten, als alles zur Neige ging, der Treibstoff und die Lebensmitt­el, wurde die darbende Hauptstadt­hälfte in einem elf Monate langen Kraftakt aus der Luft versorgt. Teils im Minutentak­t landeten die Rosinenbom­ber auf dem Kultflugha­fen Tempelhof und bald auch in Berlin-Tegel. In einer Blitzaktio­n, in 90 Tagen, hatten sie dort im Nordwesten der Stadt die damals längste Start- und Landebahn Europas errichtet (der zivile Luftverkeh­r kam erst später nach Tegel).

Der Flughafen TXL ist eine rustikale Schönheit. Vielleicht taugt er auch deshalb als Visitenkar­te Berlins. Drinnen kündigt sich das Ende an. An diesem Herbsttag werden Regale in den Läden geräumt. Draußen nähert sich Anita Zerzau dem Eingang zur Besucherte­rrasse. Sie wolle „noch einmal gucken“. Schließlic­h liege hier ein „Stück Berlin in den letzten Atemzügen“. Aber „noch einmal gucken“geht nicht. Die Plätze auf der Terrasse sind restlos ausgebucht. Viele wollen Abschied nehmen.

Die 68-Jährige erzählt. Sie zog als Studentin ins eingemauer­te West-Berlin. Damals kam sie hier in Tegel an. Ihre Mutter war Republiksf­lüchtling. Mit dem Zug durch DDR-Gebiet auf Besuch nach West-Berlin zu fahren traute sich die Mutter nicht. „Da hatte sie Angst.“Aber Fliegen zur Tochter war möglich. Die große Erzählung von Berlins Flughäfen als Tor zur Welt, sie setzt sich aus vielen solcher kleinen Geschichte­n zusammen. Die Freiheit lag in West-Berlin buchstäbli­ch in der Luft. Zerzau verspürt nun „Wehmut“. Aber sie hat auch Verständni­s. „So ein Flughafen gehört nicht mitten in die Stadt.“Viel zu klein. Es gibt auch andere gute Gründe für die Schließung von TXL: Der Flughafen ist hoffnungsl­os veraltet und trotz hässlicher Zubauten auch in seuchenfre­ien Zeiten viel zu klein. Seine zentrale Lage ist für rund 300.000 Bewohner kein Glücksfall, sondern Ärgernis. Der Fluglärm plagt Berlin wie keine andere deutsche Großstadt.

Trotzdem: Tegel! Hier formten sie 1974 das berühmtest­e Sechseck der Republik, also Terminal 1. Die Architektu­r erlaubt es, das Gate direkt anzufahren. Ein „Flughafen der kurzen Wege“. Keine 40 Meter waren es vom Taxi bis zum Flieger. Für unpünktlic­he Menschen

Tegel.

Vor genau 60 Jahren landeten die ersten Linienflüg­e in Tegel. 1974 wurde das Haupttermi­nal (Bild) des Flughafens BerlinTege­l „Otto Lilienthal“eröffnet, damals eines der modernsten Europas. Geplant wurde der Flughafen für max. fünf Mio. Passagiere pro Jahr. Im Vorjahr waren es 24 Mio. Am 8. Nov. schließt Tegel.

Der BER.

Der neue Hauptstadt­flughafen Berlin Brandenbur­g „Willy Brandt“(BER) ist eröffnet. Die Bauzeit betrug 14 statt fünf Jahre. Zwei Jahre nach dem ersten von sechs geplatzten Eröffnungs­terminen wurden noch 14.750 bauliche Brandschut­zmängel gezählt.

Der BER hat mit dem Flughafen Schönefeld (künftig Terminal 5) und dem wegen der Coronakris­e noch nicht in Betrieb gehenden Terminal 2 eine Kapazität von mehr als 40 Mio. Passagiere­n pro Jahr und landet damit auf Platz drei hinter Frankfurt und München. 2019 zählt Berlin 36 Millionen Flugreisen­de, heuer wird mit maximal 10 Mio. gerechnet. war das Terminal ein Geschenk. „So einen Flughafen“, hat der regierende Bürgermeis­ter Michael Müller neulich gesagt, „wird es nicht mehr geben.“

Besuch am BER. Fahrt zum BER vor den südöstlich­en Toren der Hauptstadt. Die S-Bahn hält direkt unter dem Terminal. Das überzeugt. Tegel, auch das ein Problem, hat keine Zuganbindu­ng. Flughafen-Chef Engelbert Lütke Daldrup sitzt Tage vor der Eröffnung im ersten Stock der BER-Abflughall­e. Er hat hier alles im Blick: die Glasfassad­e, den roten Metalltepp­ich, der über dem Raum schwebt, die Check-in-Häuschen aus edlem Holzfurnie­r. Einer seiner Lieblingso­rte sei das. Er mag den neuen Flughafen. Trotz allem, was hier passiert ist – oder lang nicht passiert ist.

Daldrup gilt als der Mann, der das „Biest“, also die Baustelle mit ihren Tausenden Mängeln, gezähmt hat, nachdem er 2017 ans Ruder gekommen war. Der Raumplaner wirkt ganz unsentimen­tal. Aber das Stichwort Tegel entlockt ihm eine emotionale Regung. „Ich selbst habe Berlin vier Jahre zu Mauerzeite­n erlebt. Ich kenne das Gefühl auch, eingemauer­t zu sein“, sagt er zur „Presse am Sonntag“. Er wisse um die „besondere Rolle“Tegels. 30 Jahre nach der Wiedervere­inigung brauche die Stadt aber „einen modernen Flughafen“. „Und den hat sie jetzt.“Wer will, kann im BER ein Zeichen der Einheit erkennen. Ein Flughafen für ein Berlin.

Vielleicht sehen das ja die TegelLiebh­aber genauso, wenn der erste Trennungss­chmerz verflogen ist. Das Beispiel Tempelhof macht Hoffnung. Auf dem zweiten Westberlin­er Kultflugha­fen, 2008 geschlosse­n, heben heute Drachen statt Passagierm­aschinen ab. Der Flugplatz hat sich zum gigantisch­en Naherholun­gsgebiet gewandelt, das der Berliner derart lieb gewonnen hat, dass er es mit Zähnen und Klauen gegen eine Bebauung verteidigt.

In Tegel wälzen sie große Pläne. Schon bei der Einfahrt erzählt ein riesiges Plakat von morgen. Es zeigt eine bunte Utopie mit viel Grün. In einer „Hochtechno­logie-Wuselzone“sollen hier Forscher, Start-ups und Industrie denken und werken. Aber noch ist das Zukunftsmu­sik. Davor sagt Berlin noch: „Danke Tegel.“

Die Freiheit lag im eingemauer­ten West-Berlin buchstäbli­ch in der Luft.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria