Jagd auf die falschen Yahoo Boys
In Nigeria schlägt die Regierung Proteste gegen Polizeigewalt blutig nieder. Diese richtet sich auch gegen IT-Experten, die pauschal attackiert werden.
Der bisher schillerndste „Yahoo Boy“hielt sich wahrlich nicht versteckt. Jahrelang protzte der Nigerianer Raymond Abbas mit Reichtum auf Instagram, bestaunt von 2,5 Millionen Followern. Im Juli wurde er schließlich in Dubai verhaftet und in die USA ausgeliefert. Seine Millionen, da sind sich die Ermittler sicher, erklären sich nicht wie behauptet durch Immobiliengeschäfte, sondern Internetbetrug im großen Stil.
Der Fall passt in die wenig schmeichelhafte Reputation Nigerias als Zentrum der Cyberkriminalität. Es gibt wohl weltweit kaum einen Internetnutzer, der nicht schon einmal Post von verwitweten Millionenerben oder nigerianischen Prinzen mit Ideen für gemeinsame Geschäfte bekommen hat.
In dem Land selbst wird das Handwerk umgangssprachlich schlicht als ein „419“bezeichnet, so lautet der Paragraf im nigerianischen Strafgesetzbuch für derartige Vergehen. Begangen von Verbrechern wie Abbas, die man dort als „Yahoo Boys“kennt. E-MailAdressen des Providers werden in den Spam-Nachrichten oft als Kontaktadresse auf dem Weg zu phänomenalem Wohlstand angegeben.
Angesichts derartiger Fälle geht bisweilen unter, dass sich die nigerianische Wirtschaftsmetropole Lagos in
Manchmal ist es schon Vergehen genug, einen Laptop im Auto zu haben.
den vergangenen Jahren zum „besten Start-up-Ökosystem in Afrika“entwickelt hat. So vermeldete es zumindest das Schweizer Unternehmen Start-upBlink, das weltweit die Entwicklung der technologischen Existenzgründerszene bewertet.
In diesem Ökosystem lebt Simisola Aremo, 24, Programmiererin in einem der aufstrebenden IT-Unternehmen der Stadt. Den Namen der Firma will sie nicht veröffentlicht sehen, aus Angst vor Problemen mit Polizei und Regierung. Sie erzählt am Telefon, dass es in diesen Tagen nicht nur die 419-Reputation ist, die ihre Branche zurückhält. Auch den mangelnden Zugang zu Kapital oder die vielen Stromausfälle (90 % der Häuser in Lagos haben eigene Generatoren) bereiten ihr derzeit vergleichsweise wenig Sorgen. „Es geht um unsere Zukunft“, sagt sie.
Denn mit der Jagd auf die Yahoo Boys ist in Nigeria die berüchtigte Spezialeinheit der Polizei Special AntiRobbery Squad (Sars) beauftragt. Sie ist bekannt für absurdes Profiling. Manchmal ist es schon ein Vergehen, einen Laptop im Auto zu haben. Oder ein teures Handy am Ohr. Für die Polizisten ist das Indiz genug, um die Besitzer als Internetbetrüger zu beschuldigen. „Sie halten dich an, schlagen dich und verlangen Geld“, sagt die Programmiererin Aremo. Einige ihrer Freunde hätten ohne Anklage wochenlang in Polizeizellen verbracht, bis sie freigekauft wurden.
Derartige Fälle erleben Mitarbeiter der IT-Branche überdurchschnittlich oft. Aber Sars ist landesweit berüchtigt, kaum eine Familie, kaum eine Branche ohne schlechte Erfahrungen. Anfang Oktober war ein Video aufgetaucht, auf dem angeblich zu sehen ist, wie SarsUniformierte einen Mann töten. Rasant verbreitete sich der Hashtag |EndSars auf den sozialen Netzwerken. Seit Wochen protestieren Tausende in Lagos und anderen Großstädten gegen die Brutalität der Polizisten. Der Süden erlebt einige der größten Unruhen seit dem Ende der Militärherrschaft 1999. Bisher sind Dutzende Menschen ums Leben gekommen.
Stadt voller Talente. Programmiererin Aremo weiß natürlich, dass Nigeria berühmt für Cyberkriminalität ist. „Aber das ist für die große Mehrheit unserer Branche absolut nicht fair“, sagt die 24-Jährige, „in Kolumbien ist doch auch nicht jeder automatisch ein Drogenhändler.“Aremo ist stolz auf die Innovationen von Nigerias Start-ups, besonders bei den international konkurrenzfähigen mobilen Bezahlsystemen. Aremo verweist auf die Akquisition der nigerianischen Firma Paystack vor wenigen Tagen durch den US-Konzern Stripe – für angeblich mehr als 200 Millionen US-Dollar. Auch FacebookGründer Mark Zuckerberg hat Lagos besucht, unterstützt dort einige Unternehmen. „Diese Stadt ist mit Talent gesegnet“, sagt Aremo.
Das gilt nicht gerade für die Polizei. Erfolge gegen Cyberkriminalität, wie die Aushebung einer Yahoo-BoysSchule 2019, sind rar. Nicht alle Polizisten seien korrupt, sagt Aremo. Doch für den Kampf gegen die Yahoo Boys würden die Sicherheitskräfte schlicht nicht angemessen geschult. Viele Polizisten verdienen zudem weniger als den gesetzlichen Mindestlohn.
Schon im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung hat es in afrikanischen Ländern wie Kenia und Südafrika Proteste gegen Polizeigewalt gegeben. Das nun erlebte Ausmaß in Nigeria aber ist neu. Als die Lage eskalierte und Polizeistationen erheblich beschädigt wurden, es auch Plünderungen gab, kündigte Präsident Muhammadu Buhari die Auflösung der Einheit an.
Aremo hat aber wenig Vertrauen. „Das reicht nicht“, sagt sie. Die Verantwortlichen müssten entlassen werden. Stattdessen sei die Rede davon, dass Sars-Mitglieder in andere Einheiten integriert werden. Längst geht es vielen auf den Straßen um mehr: die endemische Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung, die Marginalisierung der Jugend, hohe Arbeitslosigkeit.
Auf dem Papier ist Nigeria Afrikas größte Volkswirtschaft. Gleichzeitig ist es das größte Armenhaus der Welt. Die Hälfte der Bevölkerung des mit 204 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Landes des Kontinents lebt in extremer
Es geht um Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die Marginalisierung der Jugend.
Armut. Die Lage wird durch Buharis protektionistische Handelspolitik erschwert. Viele Produkte dürfen nicht oder nur mit hohen Zöllen importiert werden. Seit Buhari im Vorjahr auch noch die Zentralbank angewiesen hat, keine Nahrungsmittelimporte mehr zu finanzieren, ist die ohnehin fragile Lebensmittelversorgung der Nation akut gefährdet. Nigerias Regierung hat sich zu lang auf die Öl-Industrie verlassen. Angesichts des nach wie vor niedrigen Ölpreises wäre es eigentlich im Interesse der Behörden, die Internetbranche zu unterstützen. Aremo fordert weit weniger: „Wir wollen nicht wie Verbrecher behandelt werden.“Das wäre schon ein Fortschritt.