Friedhofsbesuch bei John Coltrane, Sartre und Dalida
Ist an der letzten Ruhestätte wirklich eine heilige Ruh? Oder herrscht Rummel? Musiker, Poeten und Philosophen bekommen nicht nur zu Allerseelen Besuch. Eine kleine Reise zu entlegenen und nahen Gräbern, vom Pinewood Memorial Park, wo John Coltrane ruht, über den Cimeti`ere Montparnasse bis zum Zentralfriedhof.
Musik als Gebet und Meditation, das ist „A Love Supreme“. Die Idee dazu hatte Jazzsaxofonist John Coltrane schon während seiner Militärzeit. Aufgenommen hat er diese vierteilige Suite aber erst im Dezember 1964. In ihr geht es um universelle Liebe und spirituelles Bewusstsein. Eine so zeitlose wie überkonfessionelle musikalische Himmelsfahrt. Grund genug, nachzusehen, wie dieser am 17. Juli 1967 im Alter von nur 40 Jahren Verstorbene zur ewigen Ruhe gebettet ist.
Gut, dass der Jetlag nach dem Transatlantikflug aus mir Eule eine Lerche machte. Die Morgensonne von der richtigen Seite zu betrachten, also nach und nicht vor dem Schlaf, ist rar in meinem Leben. Weniger als vier Stunden nach dem Einschlafen war ich wieder hellwach. Mit munter in den Adern rauschendem Blut machte ich mich zu Fuß auf den Weg zur Penn Station. Ein verkehrsfreies, stilles New York ist schon eine Attraktion für sich selbst. „Ronkonkoma!“, bellte der Schalterbeamte. „Könnten Sie mir das wohl aufschreiben?“, fragte ich kleinlaut. Eine Viertelstunde später saß ich in einem klapprigen Zug Richtung Ronkonkoma.
Nach 90 Minuten stieg ich in Pinelawn aus. Niemandsland. Oder besser: Totenland. Ein Bahnsteig ohne Häuschen, Grabsteine in allen Himmelsrichtungen bis zum Horizont. Pinewood Memorial Park. Wohin mit mir? Ich lenkte die Schritte Richtung Verwaltungshäuschen. Dass es am Sonntag geschlossen hatte, überraschte mich. Anders als bei früheren Friedhofsexkursionen hatte ich keine exakte Lageangabe für Coltranes Grab. Die ist mittlerweile auf der Website „Find a Grave“nachgetragen: „Greenlawn Div, Sec. 31, Block 4, Range 2, Grave 13“. Aber das wusste ich damals nicht. Die wenigen Menschen, die ich auf dem Friedhof traf und fragte, wichen leicht paranoid zurück. Nicht einmal der afroamerikanische Security-Mann hatte eine Ahnung, wer John Coltrane war. Geschweige denn, wo sein Grab ist. „Probieren Sie es bei den Bahngleisen“, riet er. Da stand ich, ein international umtriebiger Veteran der Grabwallfahrt, und fühlte die reale Gefahr, dass sich das Ziel nicht finden lässt. War es Intuition oder Gottes Hand, wer weiß das schon, 45 Minuten später stand ich am Grab von Alice und John Coltrane. Von einer in den Rasen eingelassenen, ein wenig rostigen Metallplatte waren die Lebensdaten abzulesen. Schräg dahinter ein weißer Marmorstein mit der schlichten Aufschrift „Coltrane“.
4000 Alben. Es begann leicht zu regnen. Hektisch fingerte ich in meinen Jackentaschen nach dem Mobiltelefon. Auf ihm sind etwa 4000 Musikalben gespeichert. Schon beim Flug hatte ich überlegt, welche Stücke ich zu ihren Urhebern „zurückbringen“wollte. Die Grundstimmung war klar: Elegie war gefragt. Das Harfengezirpe von Alice Coltranes „Galaxy in Turya“eröffnete die Session. Dann arbeiteten sich die melancholischen Klänge von John Coltranes „Naima“und „After the Rain“durch die winzigen Handylautsprecher. Dann der Höhepunkt. John Coltranes „A Love Supreme Pt. 1 – Acknowledgement“, gefolgt von Alice Coltranes leicht kurioser Interpretation.
Mit hochgeschlagenem Kragen mache ich mich vom Gottesacker, obwohl im Pinelawn Memorial Park noch andere Musikgrößen zu finden gewesen wären. Funk-Saxofonist King Curtis, Orchesterleiter Count Basie und Ellie Greenwich, Co-Komponistin berühmter Stücke wie „River Deep Mountain High“und „Do Wah Diddy Diddy“. Doch die Zeit drängte. Ich musste nach Manhattan zurück. Ich hatte einen Termin am Broadway, bei der Plattenfirma Universal, die in die Rudy Van Gelder
Studios in New Jersey geladen hatte, um ein bis dahin verschollenes JohnColtrane-Album von 1963 vorzustellen. Im anschließenden Interview mit Sohn Ravi Coltrane erwähnte ich, dass ich das Grab seiner Eltern besucht habe. Seine Reaktion darauf fand ich erstaunlich: „Why?“Ich stammelte etwas davon, dass wir in Europa unseren lieben Toten regelmäßig Ehrerbietung erweisen. Aber war das richtig? Anders als in der buddhistischen Kultur Japans, wo permanent Fühlung mit den Ahnen aufgenommen wird, ist im christlichen Europa gerade ein Tag im Jahr dafür vorgesehen. Und da verhindern Hektik und Menschenstau meist stilles Gedenken. Wer öfter im Jahr Friedhöfe besucht, meidet diesen Termin. Allerheiligen mag es nur einmal im Jahr geben, aber Allerseelen kann man auch an den 364 anderen Tagen zelebrieren.
Von Gräbertourismus zu sprechen, wenn Menschen nicht nur Angehörige, sondern Musiker, Poeten und Philosophen auf dem Friedhof besuchen, wäre grundfalsch. Denn sich an Erd- oder Maueröffnungen einzufinden, wo geliebte Stars ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, ist ein modernes Memento mori. Wer an Gräbern berühmter Menschen trauert, der begrübelt auch die eigene Sterblichkeit. Mit ihr hat sich der rumänisch-französische
Philosoph E. M. Cioran ein Leben lang exzessiv beschäftigt. Nun ruht er auf dem Cimetie`re Montparnasse, einer von Denkern und Künstlern dicht besiedelten Pariser Nekropole. Seine Buchtitel wie „Vom Nachteil, geboren zu sein“und „Der Absturz in die Zeit“sprechen für sich. Er postulierte Paradoxes. Etwa, dass wir nicht dem Tod entgegenlaufen, sondern vor der Katastrophe der Geburt flüchten. „Man hat uns eingebläut, dass die Geburt das höchste Gebot sei. Das wahre Übel ist jedoch hinter uns. Das ist Christus entgangen, das hat Buddha gewusst.“
Auf Ciorans Grab sind stets rumänische Geldscheine, Trockenblumen und gedankenschwere Briefe abgelegt. Auf dem nur einen Steinwurf entfernten Grab des ähnlich schwermütigen Dichters Samuel Beckett liegen hingegen stets Nägel. Eine Anspielung auf den Nell im „Endspiel“? Schräg vis-a`vis, bei Serge Gainsbourg, regiert oft der Bahöl. In Anspielung auf sein Schaffnerlied
„Le Poinc¸onneur des Lilas“
»Probieren Sie es bei den Gleisen« – 45 Minuten später stand ich an Coltranes Grab.
stapeln sich Metrotickets. Fans hören laut Lieder wie dieses, trinken Alkohol, verschütten Hochprozentiges auf dem Grabstein. Durchsickern kann nichts. Leider, wird Gainsbourg wohl seufzen.
Sartre/Beauvoir. In einer anderen Ecke des Cimetie`re Montparnasse liegen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir in einem gemeinsamen Grab. Ausgerechnet sie, die das Zusammenwohnen zeitlebens erfolgreich vermieden haben! Die kürzlich verstorbene Chansonnie`re Juliette Gre´co, Ikone des existenzialistischen Quartier Saint Germain-de-Pre`s, hatte übrigens testamentarisch begehrt, ihre Ewigkeit auch auf diesem Friedhof der Hochgebildeten zu verbringen. Vielleicht gibt es ja ein Weiterlernen nach dem Tod. Ihre Kollegin Dalida hatte sich dagegen für den Cimetie`re Montmartre entschieden. Vielleicht, weil Adolphe Sax, der Erfinder des Saxofons, dort bestattet ist. Wahrscheinlicher ist, dass sie dieses Baumidyll wählte, weil sie es von ihrer letzten Wohnung aus sehen konnte. Ihr pompöses Grabmal mit der weißen Statue wurde übrigens zu gleichen Teilen von Frankreich und Ägypten finanziert. Länderübergreifende Liebe.
Was die Besuchsgewohnheiten angeht, unterscheiden sich die Mentalitäten doch sehr. Während in Frankreich ein inniges Verhältnis zu den Toten gepflegt wird – Simone-de-Beauvoir-Fans lesen ihre Bücher an ihrem Grab – werden in London viele Friedhöfe durch Sportler entwürdigt. Wenn er könnte, würde der auf dem Brompton Cemetery bestattete Richard Tauber wohl ironisch eine Braue heben ob der vielen Jogger, die da täglich im Ungeist der Selbstoptimierung durch die Anlage hecheln.
Anders in den USA. Dort herrscht auf Friedhöfen wahrlich Totenstille. Kaum Besucher. Das hat auch gute Seiten. So konnte ich mich bei meinem Besuch auf dem Saint Raymond’s Cemetery in der Bronx entspannt auf das sehr schwer zu findende, nicht eingefasste Grab der Jazzsängerin Billie Holiday legen, um einigen ihren schwermütigsten Lieder zu lauschen.
Bei meinem Besuch am Grab des mit nur 26 Jahren verblichenen britischen Folksängers Nick Drake war schon die Anreise mit museumsreifen Zügen ins idyllische Tanworth-in-Arden in den englischen Midlands ein Abenteuer. Endlich am Grab angelangt, startete ich meine Rituale. Stilles Meditieren, Songs hören, Details fotografieren. Respektvoll standen zwei Gestalten hinter den Bäumen. Erst als ich mich zu gehen aufmachte, gaben sie ihre Deckung auf und kamen freundlich grüßend auf mich zu. Auch sie, ausgestattet mit Filmkameras, wollten zu Nick Drakes Grab. Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod zieht es immer noch Besucher aus aller Welt an. Und die sind nicht unbedingt der Depression zugeneigt. Melancholie? Ja. Luft und Stille erzeugen schönste schwarzgallige Gedanken.
Auf E. M. Ciorans Grab liegen rumänische Geldscheine, Trockenblumen und Briefe.
Zuweilen gibt es auch etwas zum Schmunzeln. Etwa die posthume räumliche Nähe von Menschen, die zu Lebzeiten nicht die besten Freunde waren. So liegen auf dem Grinzinger Friedhof Dichter Thomas Bernhard und Schlagersänger Peter Alexander in erstaunlicher Nähe zueinander. Dass Falco und Kurt „Supermax“Hauenstein Kopf an Kopf auf dem Wiener Zentral dem jüngsten Gericht entgegenschlummern, ist ähnlich kurios. Sie können nichts mehr dagegen tun. Andere haben es besser getroffen. Der jung verstorbene Ö1-Mann Gerhard Pretting etwa ist jetzt direkter Nachbar von Heimito von Doderer. Ihnen allen und uns selbst sollten wir an diesem Tag den zwar kitschigen, aber tröstlichen Bob-Dylan-Song „Death Is Not the End“gönnen. Woher Dylan weiß, dass es nach dem Tod weitergeht, darüber muss gerätselt werden. Schon lang erläutert er seine Lieder nicht mehr. Es bleibt die Zwiesprache mit den Toten oder mit sich selbst.