Die Stunde des Anti-Trump
he von Schicksalsschlägen und eine lebensbedrohliche Blutgerinnsel-Operation überstand und sich im dritten Anlauf mit seinen bald 78 Jahren anschickt, als ältester Präsident ins Weiße Haus einzuziehen. 1988 war er nach einer blamablen Affäre, als er eine Rede des britischen Labour-Chefs Neil Kinnock plagiierte, früh gescheitert. 20 Jahre später avancierte er schließlich zur Nummer zwei, hinter Barack Obama.
Fast 50 Jahre hat sich Joe Biden auf seine große Stunde vorbereitet, seit er 1973 als jüngster Senator einen Monat nach dem vorweihnachtlichen Unfalltod seiner ersten Frau und seiner Baby-Tochter mit 30 Jahren seine Karriere in Washington gestartet hatte. Vor neun Monaten hätte kaum jemand damit gerechnet, dass er das Ziel noch erreichen würde. Bei den ersten Vorwahlen in Iowa und New Hampshire lag der Favorit abgeschlagen hinter Bernie Sanders, der Galionsfigur des linken Flügels, und Pete Buttigieg, dem Shootingstar. Bis er in South Carolina mithilfe der loyalen afroamerikanischen Wählerschaft und ihres Wortführers, des Abgeordneten Jim Clyburn, doch noch ein Comeback schaffte und schließlich am „Super Tuesday“zum Siegeszug ansetzte.
Biden sah die Demokratie in Gefahr. Die Polarisierung unter Trump holte ihn aus der Rente.
Seine Konkurrenten versammelten sich hinter dem Kompromisskandidaten. Als Mann von gestern abgeschrieben, zog er als chancenreichster Anwärter aus, Donald Trump die Präsidentschaft abzujagen. Die Gefahr für die Demokratie trieb ihn um. Die Polarisierung unter Trump hatte Biden aus der Pension zurückgeholt – und die verpasste Chance, 2016 gegen ihn anzutreten. Das hat er sich nicht verziehen. Sein Sohn Beau, Justizminister in Delaware, war im Jahr zuvor einem Hirntumor erlegen. Noch am Sterbebett, so die Fama, rang ihm Beau das Versprechen einer neuerlichen Kandidatur ab. Jetzt postulierte Biden den „Kampf um die Seele Amerikas“, doch die Coronakrise zwang ihn monatelang in die Isolation seines Hauses in Wilmington. Von seinem improvisierten Kellerstudio führte er, von Trump als „Sleepy Joe“verhöhnt, einen Wahlkampf auf Sparflamme.
»Uncle Joe«. In den Swing States im „Rostgürtel“, in Wisconsin, Michigan und Pennsylvania, erhoffte sich der hemdsärmelige, leutselige Demokrat mit dem Hang zu Fauxpas und Übertreibungen indessen große Chancen, Trump-Wähler zurückzugewinnen. Der gläubige Katholik, der sehr auf seine irischen Wurzeln hält, spricht die Sprache der Arbeiter. Doch unter den Bedingungen der Corona-Pandemie konnte er im Wahlkampf seine Stärken nicht ausspielen: seine Empathie und Jovialität im Direktkontakt mit den Bürgern. Es sollte dann doch knapp reichen, die „blauen“Staaten zurückzuerobern.
In Washington haben sie ihm Spitznamen verpasst: „Amtrak-Joe“, weil er jahrzehntelang im Zug in die Hauptstadt pendelte, und „Uncle Joe“, wegen seiner notorisch sentimentalen Art und seinen ausschweifenden Reden. Nach einer der Biden-Ansprachen im Senat schrieb ein enervierter Obama auf einen Schmierzettel: „Shoot me.“Doch er lernte ihn als Berater und Vertrauten schätzen, und neuerdings nennt er ihn „Brother“. Vor Ausrutschern und Pannen – „Joe-Bomben“– war Biden allerdings im Weißen Haus nicht gefeit.
Robert Gates, unter Obama republikanischer Verteidigungsminister, sagt ihm nach, bei fast allen wichtigen außenpolitischen Entscheidungen falsch gelegen zu sein. Anstand, Ehrlichkeit und Konsensfähigkeit wollen die Republikaner dem Politprofi aber nicht absprechen. Im Weißen Haus sind sie aus der Mode gekommen.