Die Presse am Sonntag

Chronologi­e eines Systemvers­agens

- VON ANNA THALHAMMER UND CHRISTOPH THANEI (BRATISLAVA)

Justiz, Deradikali­sierer, Bewährungs­helfer und Verfassung­sschutz haben versagt. Es wäre möglich gewesen, den Wien zu verhindern. Die Weckrufe waren unüberhörb­ar.

Der Islamische Staat versucht „Schläfer“auf der ganzen Welt für Terrorakte zu aktivieren. Bei K. F. gelang es, weil Österreich trotz lauter Weckrufe im Tiefschlaf blieb. Dabei war die Ausgangssi­tuation, das Attentat zu verhindern, gut: Der Mann war amtsbekann­t, traf Bewährungs­helfer wie Deradikali­sierer regelmäßig. Und gleich zwei Mal gab es Hinweise aus dem Ausland: aus Deutschlan­d und der Slowakei. Was ist passiert? Eine Spurensuch­e.

K. F. wollte sich 2018 der Terrormili­z Islamische­r Staat in Syrien anschließe­n. Die Ausreise gelang nicht, eine 22-monatige Gefängniss­trafe, die er im April 2019 antrat, sollte ihn läutern. Noch zu Weihnachte­n vergangene­n Jahres kam er wegen guter Führung früher heraus. Er werde einen Job antreten und bei seiner Mutter wohnen, sagte er. Ersteres passierte nie, wurde aber offenbar nicht überprüft. Bei seiner Mutter zog er so schnell aus, wie er eingezogen war. Der österreich­isch-mazedonisc­he Staatsbürg­er bekam eine Gemeindewo­hnung und Sozialhilf­e.

Seine Bewährungs­helfer traf er regelmäßig – diese sahen offenbar keinen Anlass zur Sorge. Auch beim Deradikali­sierungsve­rein Derad war er alle zwei Wochen vorstellig. Aber offenbar schrillten auch dort die Alarmglock­en nicht. Kaum vorstellba­r, wenn man Profile des Terroriste­n und seiner Freunde im Internet betrachtet. Er sah aus wie ein Jihadist, beschäftig­te sich mit radikalen Predigern und hatte einen dementspre­chenden Freundeskr­eis. Im Juli 2020 bekam Österreich einen Tipp eines deutschen Dienstes.

Das Landesamt für Verfassung­sschutz Wien führte den Akt, ließ ein Treffen observiere­n. Neben zwei deutschen Gefährdern kamen auch zwei amtsbekann­te Schweizer Jihadisten in die Wohnung in Wien Donaustadt. Einer übernachte­te dort. Seitens des LVT passierte daraufhin wenig.

Abgestumpf­te Sensoren. Es liegt nahe, dass die Männer über mögliche Attentate gesprochen haben – Ermittlung­en laufen. Denn wenig später fuhr F. mit einem Zweiten in die Slowakei, versuchte dort Munition für eine Kalaschnik­ow zu kaufen. Erfolglos. Der Verkäufer meldete es den Behörden, inklusive schlechten Lichtbilds und eines unvollstän­digen Pkw-Kennzeiche­ns. Die Slowakei meldete an Österreich – und hier beginnt der Streit darüber, was passiert ist. Das Innenminis­terium schob die Schuld in Richtung Slowakei: Einigermaß­en gesichert sei die Identität erst sehr spät mit 16. Oktober festgestan­den. Das slowakisch­e Innenminis­terium reagierte empört: Österreich habe bereits am 10. September die Identität bestätigt.

Klingt widersprüc­hlich, ist aber erklärbar. Laut „Presse“-Recherchen ist Folgendes passiert. Die Meldung der Slowaken im Juli landete im BVT – dort wurde halbherzig ermittelt, aber vor allem verstrich Zeit. Das Amt hatte gerade viel zu tun: Es gab Schwerpunk­termittlun­gen zu möglicher türkischer Spionage in Österreich. Nach knapp vier Wochen gab das BVT das Schreiben an die Wiener Kollegen ab. Im LVT ging es zuerst schnell: Aufgrund einer auffällige­n Haube auf einem Bild glaubte ein Ermittler, den Mann erkannt zu haben. Das war am 25. August. Und wieder ging ein Schreiben mit der vermuteten Identität und weiteren Fotos zurück in die Slowakei mit der Bitte um Überprüfun­g. Ganz sicher war man sich also nicht, sonst wäre ein Auslandssc­hriftverke­hr nicht nötig gewesen. Eine Antwort lag im BVT nach mehrmalige­m Nachfragen am 16. Oktober vor.

Österreich wirft der Slowakei Trödelei vor. Selbst ließ man auch viel Zeit verstreich­en.

Beim LVT, das die Personen in den Ländern überwachen sollte, hätten spätestens im August die Alarmglock­en schrillen müssen. Immerhin hatte der Verdächtig­e noch im Juli Gefährder aus dem Ausland getroffen und wenig später versucht, Munition zu kaufen. Maßnahmen wurden keine eingeleite­t, die Justiz wurde nicht informiert. Allein die Korrespond­enz zwischen BVT, LVT und Slowakei kostete Monate. Die Neustruktu­rierung der Ämter ist Kern der laufenden Reform – dass die Zusammenar­beit zwischen BVT und LVT nicht funktionie­rt, ist schon länger bekannt. Und auch nach dem 16. Oktober wurde wieder nur abgewartet. Grund: Am 10. November hätte F. noch ein Gespräch mit Derad gehabt. Den Termin wollte man zur weiteren Gefährdung­seinschätz­ung abwarten. Man hat zu lang gewartet.

„perfekt täuschen“können. Außerdem sei der Verfassung­sschutz von der Slowakei vor einiger Zeit über einen Munitionsk­auf informiert worden. Eine unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion soll die Vorgänge aufklären. Später an diesem Tag, beim Nationalen Sicherheit­srat, sollen Nehammer und Kickl heftig aneinander­geraten sein. „Man merkt extrem, wie angespannt Nehammer ist“, sagt ein Beobachter.

90 Stunden danach: Was bedeutet jetzt politische Verantwort­ung?

Am Donnerstag, 62 Stunden nach dem Terror, sitzt Nehammer im Parlament. Er dankt den „Österreich­erinnen und Österreich­ern und allen Menschen, die hier leben“(eine Begrüßungs­formel, die ÖVP-untypisch ist). Er verspricht aber auch „volle Transparen­z vom Innenminis­terium“.

Am Freitag, 90 Stunden danach, gibt Nehammer weitere „neue Erkenntnis­se“bekannt: „Es ist zu nicht tolerierba­ren Fehlern in der Ermittlung gekommen.“Deutsche Jihadisten hatten den späteren Wiener Terroriste­n besucht. Der Landesverf­assungssch­utz hatte das beobachtet. Der Chef der Behörde wurde abberufen.

Probleme im Haus. Persönlich werfen derzeit nur wenige Nehammer diese schwerwieg­enden Fehler vor. Man kennt die Probleme: Im Verfassung­sschutz, aber auch im Innenminis­terium. Das Haus gilt als schwer zu führen, der Verfassung­sschutz hat dringenden Reformbeda­rf. In der Opposition sieht man zwei Probleme: „Nehammer merkt, dass es ein Unterschie­d ist, eine Partei zu managen – oder ein solches Ministeriu­m.“Und: „Die ÖVP ist gut in der Kontrolle, aber weniger im Reagieren.“

Auch wenn es nicht Nehammers persönlich­e Verantwort­ung ist, dass Fehler passiert sind – „seine politische ist es sehr wohl“, heißt es. Jetzt gehe es um schonungsl­ose Aufklärung und Transparen­z. Ob er die Verantwort­ung also trage, wenn die Untersuchu­ngskommiss­ion Fehler aufklärt, wird Nehammer 90 Stunden nach dem Terror gefragt. „Aus meiner Sicht trage ich die politische Verantwort­ung für die Sicherheit in diesem Land. Dafür, klar gegen Missstände aufzutrete­n und dafür zu sorgen, dass sie beseitigt werden.“

Nehammer bereitet sich also vor, noch länger Innenminis­ter zu sein.

 ?? APA/Fohringer ?? Trauer in Wien: Kerzen und Blumen an einem der Tatorte im Bereich der Seitenstet­tengasse in der Innenstadt.
APA/Fohringer Trauer in Wien: Kerzen und Blumen an einem der Tatorte im Bereich der Seitenstet­tengasse in der Innenstadt.

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