Chronologie eines Systemversagens
Justiz, Deradikalisierer, Bewährungshelfer und Verfassungsschutz haben versagt. Es wäre möglich gewesen, den Wien zu verhindern. Die Weckrufe waren unüberhörbar.
Der Islamische Staat versucht „Schläfer“auf der ganzen Welt für Terrorakte zu aktivieren. Bei K. F. gelang es, weil Österreich trotz lauter Weckrufe im Tiefschlaf blieb. Dabei war die Ausgangssituation, das Attentat zu verhindern, gut: Der Mann war amtsbekannt, traf Bewährungshelfer wie Deradikalisierer regelmäßig. Und gleich zwei Mal gab es Hinweise aus dem Ausland: aus Deutschland und der Slowakei. Was ist passiert? Eine Spurensuche.
K. F. wollte sich 2018 der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien anschließen. Die Ausreise gelang nicht, eine 22-monatige Gefängnisstrafe, die er im April 2019 antrat, sollte ihn läutern. Noch zu Weihnachten vergangenen Jahres kam er wegen guter Führung früher heraus. Er werde einen Job antreten und bei seiner Mutter wohnen, sagte er. Ersteres passierte nie, wurde aber offenbar nicht überprüft. Bei seiner Mutter zog er so schnell aus, wie er eingezogen war. Der österreichisch-mazedonische Staatsbürger bekam eine Gemeindewohnung und Sozialhilfe.
Seine Bewährungshelfer traf er regelmäßig – diese sahen offenbar keinen Anlass zur Sorge. Auch beim Deradikalisierungsverein Derad war er alle zwei Wochen vorstellig. Aber offenbar schrillten auch dort die Alarmglocken nicht. Kaum vorstellbar, wenn man Profile des Terroristen und seiner Freunde im Internet betrachtet. Er sah aus wie ein Jihadist, beschäftigte sich mit radikalen Predigern und hatte einen dementsprechenden Freundeskreis. Im Juli 2020 bekam Österreich einen Tipp eines deutschen Dienstes.
Das Landesamt für Verfassungsschutz Wien führte den Akt, ließ ein Treffen observieren. Neben zwei deutschen Gefährdern kamen auch zwei amtsbekannte Schweizer Jihadisten in die Wohnung in Wien Donaustadt. Einer übernachtete dort. Seitens des LVT passierte daraufhin wenig.
Abgestumpfte Sensoren. Es liegt nahe, dass die Männer über mögliche Attentate gesprochen haben – Ermittlungen laufen. Denn wenig später fuhr F. mit einem Zweiten in die Slowakei, versuchte dort Munition für eine Kalaschnikow zu kaufen. Erfolglos. Der Verkäufer meldete es den Behörden, inklusive schlechten Lichtbilds und eines unvollständigen Pkw-Kennzeichens. Die Slowakei meldete an Österreich – und hier beginnt der Streit darüber, was passiert ist. Das Innenministerium schob die Schuld in Richtung Slowakei: Einigermaßen gesichert sei die Identität erst sehr spät mit 16. Oktober festgestanden. Das slowakische Innenministerium reagierte empört: Österreich habe bereits am 10. September die Identität bestätigt.
Klingt widersprüchlich, ist aber erklärbar. Laut „Presse“-Recherchen ist Folgendes passiert. Die Meldung der Slowaken im Juli landete im BVT – dort wurde halbherzig ermittelt, aber vor allem verstrich Zeit. Das Amt hatte gerade viel zu tun: Es gab Schwerpunktermittlungen zu möglicher türkischer Spionage in Österreich. Nach knapp vier Wochen gab das BVT das Schreiben an die Wiener Kollegen ab. Im LVT ging es zuerst schnell: Aufgrund einer auffälligen Haube auf einem Bild glaubte ein Ermittler, den Mann erkannt zu haben. Das war am 25. August. Und wieder ging ein Schreiben mit der vermuteten Identität und weiteren Fotos zurück in die Slowakei mit der Bitte um Überprüfung. Ganz sicher war man sich also nicht, sonst wäre ein Auslandsschriftverkehr nicht nötig gewesen. Eine Antwort lag im BVT nach mehrmaligem Nachfragen am 16. Oktober vor.
Österreich wirft der Slowakei Trödelei vor. Selbst ließ man auch viel Zeit verstreichen.
Beim LVT, das die Personen in den Ländern überwachen sollte, hätten spätestens im August die Alarmglocken schrillen müssen. Immerhin hatte der Verdächtige noch im Juli Gefährder aus dem Ausland getroffen und wenig später versucht, Munition zu kaufen. Maßnahmen wurden keine eingeleitet, die Justiz wurde nicht informiert. Allein die Korrespondenz zwischen BVT, LVT und Slowakei kostete Monate. Die Neustrukturierung der Ämter ist Kern der laufenden Reform – dass die Zusammenarbeit zwischen BVT und LVT nicht funktioniert, ist schon länger bekannt. Und auch nach dem 16. Oktober wurde wieder nur abgewartet. Grund: Am 10. November hätte F. noch ein Gespräch mit Derad gehabt. Den Termin wollte man zur weiteren Gefährdungseinschätzung abwarten. Man hat zu lang gewartet.
„perfekt täuschen“können. Außerdem sei der Verfassungsschutz von der Slowakei vor einiger Zeit über einen Munitionskauf informiert worden. Eine unabhängige Untersuchungskommission soll die Vorgänge aufklären. Später an diesem Tag, beim Nationalen Sicherheitsrat, sollen Nehammer und Kickl heftig aneinandergeraten sein. „Man merkt extrem, wie angespannt Nehammer ist“, sagt ein Beobachter.
90 Stunden danach: Was bedeutet jetzt politische Verantwortung?
Am Donnerstag, 62 Stunden nach dem Terror, sitzt Nehammer im Parlament. Er dankt den „Österreicherinnen und Österreichern und allen Menschen, die hier leben“(eine Begrüßungsformel, die ÖVP-untypisch ist). Er verspricht aber auch „volle Transparenz vom Innenministerium“.
Am Freitag, 90 Stunden danach, gibt Nehammer weitere „neue Erkenntnisse“bekannt: „Es ist zu nicht tolerierbaren Fehlern in der Ermittlung gekommen.“Deutsche Jihadisten hatten den späteren Wiener Terroristen besucht. Der Landesverfassungsschutz hatte das beobachtet. Der Chef der Behörde wurde abberufen.
Probleme im Haus. Persönlich werfen derzeit nur wenige Nehammer diese schwerwiegenden Fehler vor. Man kennt die Probleme: Im Verfassungsschutz, aber auch im Innenministerium. Das Haus gilt als schwer zu führen, der Verfassungsschutz hat dringenden Reformbedarf. In der Opposition sieht man zwei Probleme: „Nehammer merkt, dass es ein Unterschied ist, eine Partei zu managen – oder ein solches Ministerium.“Und: „Die ÖVP ist gut in der Kontrolle, aber weniger im Reagieren.“
Auch wenn es nicht Nehammers persönliche Verantwortung ist, dass Fehler passiert sind – „seine politische ist es sehr wohl“, heißt es. Jetzt gehe es um schonungslose Aufklärung und Transparenz. Ob er die Verantwortung also trage, wenn die Untersuchungskommission Fehler aufklärt, wird Nehammer 90 Stunden nach dem Terror gefragt. „Aus meiner Sicht trage ich die politische Verantwortung für die Sicherheit in diesem Land. Dafür, klar gegen Missstände aufzutreten und dafür zu sorgen, dass sie beseitigt werden.“
Nehammer bereitet sich also vor, noch länger Innenminister zu sein.