Die schwierigsten 90 Stunden des Karl Nehammer
Zehn Stunden nach dem Anschlag: »Das lassen wir uns in keiner Weise gefallen.«
Am Montagabend begann für den Innenminister die dramatischste Woche. Zuerst war er staatstragender Vorzeigepolitiker, dann entglitt ihm die Situation. Und doch wollen ihm persönlich das – derzeit noch – wenige vorwerfen. Über einen Türkisen, der womöglich mehr Hardliner spielt als er ist.
In Karl Nehammers Büro, Herrengasse 7, steht immer ein Funkgerät. Manchmal hört der Innenminister rein, das erzählte er schon vor Monaten. Dadurch bekomme er mit, was bei den Polizeibeamten los ist. An diesem Montagabend muss er das Gerät aber wegen einer schrecklichen Warnung aufdrehen. Ein Mitarbeiter hat gerade die Nachricht erhalten, dass am Wiener Schwedenplatz ein „Mann mit Langwaffe unterwegs“ist. Bald geben andere Polizisten ähnliche Meldungen durch. Nehammer hört sie auch. „Und du merkst an den Funksprüchen der Kollegen schnell, wie dramatisch die Situation ist“, wird er später der „Presse am Sonntag“erzählen.
Es ist nur wenige Minuten nach 20 Uhr, als Nehammer Sebastian Kurz (ÖVP) alarmiert. Der Bundeskanzler kommt ins Innenministerium. In Nehammers Büro sitzen jetzt die wichtigsten Mitarbeiter zusammen und besprechen das weitere Vorgehen während des Terroranschlags. Nach neun Minuten wird der Terrorist erschossen. Zu diesem Zeitpunkt weiß man aber noch nicht, dass er allein getötet hat. „Es waren sicher die dramatischsten Szenen, die ich in meinem Leben so hautnah miterleben musste“, sagt Nehammer.
Und es wird auch seine politisch dramatischste Woche. Nehammer zählt selbst öffentlich mit, wie viele Stunden seit dem 2. November, 20.03 Uhr, vergangen sind. Man kann ihn dabei beobachten, wie ihm nach und nach die Lage entgleitet. Je weiter jener Montagabend in die Ferne rückt, desto stärker stehen er und sein Ministerium im Fokus: Bei Stunde 90 wird er das erste Mal gefragt werden, ob er die politische Verantwortung für Fehler im Innenministerium tragen wird.
Eine Botschaft. Diese Geschichte würde sich anders lesen, wäre sie noch vor einigen Tagen erzählt worden. Direkt nach der Nacht, die in Wien so viel verändern sollte. Zehn Stunden nach dem Anschlag, um sechs Uhr früh, tritt Nehammer wieder vor die Kameras. Es ist schon der zweite Medienauftritt an diesem Tag. Geschlafen hat Nehammer nicht („Es ist ein komisches Gefühl, man spürt sich in der Phase ja ganz wenig“). Aber dieses Mal konnte er sich eine Botschaft zurechtlegen. Er wird sie in den kommenden Tagen noch oft wiederholen: „Österreich ist ein Land, dessen Identität geprägt ist von Grundwerten wie freier Meinungsäußerung, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz. Der gestrige Anschlag ist ein völlig untauglicher Versuch, unsere demokratische Gesellschaft auseinanderzubringen. Das lassen wir uns in keiner Weise gefallen.“
18 Stunden nach dem Anschlag, am Dienstagnachmittag, fügt er hinzu: „Kein Terroranschlag wird es schaffen, dass unsere Gesellschaft im Zusammenhalt zerrissen oder gespalten wird.“Ihm sei wichtig zu erwähnen – „als positives Beispiel in diesem schrecklichen Fall“– dass zwei Österreicher mit Migrationshintergrund einen verletzten Polizisten in Sicherheit brachten. Nehammer tut das, was Experten Regierenden in solchen Situationen raten: Er wählt die Deeskalation. Beschwört den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Er versucht Ruhe in das Chaos zu bringen. Sein staatstragendes Auftreten überraschte manche. Nehammer zeigt sich sonst immerhin gern als Hardliner und Law-and-OrderPolitiker.
Intern gibt er sich offenbar anders: Beim Koalitionspartner, den Grünen, gilt Nehammer als eine der Überraschungen, das hörte man schon vor der vergangenen Woche. Und wie ist das Bild jetzt? „Innerhalb der Regierung ist er moderater, als er sich sonst gibt.“Er sei „sehr fakten- und lösungsorientiert“, und „im Coronamanagement sehr um Deeskalation bemüht“. Auch sein unmittelbares Umfeld im Innenressort sei kooperativ. Das sei in dem
Ministerium nicht immer so gewesen. Nehammer sei auch liberaler und moderater, als man glauben möchte.
Und auch mit dem ehemaligen Koalitionspartner hat die Zusammenarbeit gut funktioniert. „Ich sag’s Ihnen gleich, besonders viel Kritisches gibt es nicht“, sagt Christian Hafenecker, wenn man ihn um ein Gespräch über Nehammer bittet. Während der türkis-blauen Regierung waren beide Generalsekretäre ihrer Partei. „Es wäre unfair, jetzt zu sagen, dass es Diskrepanzen gab“, sagt Hafenecker. „Was man mit ihm ausgemacht hat, hat gehalten.“Er, Hafenecker, hatte auch den Eindruck, „dass er selbst einer war, der gern weitergemacht hätte.“Also mit Türkis-Blau. Für moderat halte er Nehammer nicht. Vermutlich sei er einfach kein großer Ideologe, sondern Machtpolitiker. Wie viele in der ÖVP-Riege. Nach dem Bruch der Koalition hatten die beiden Kollegen auch keinen Kontakt mehr. Nehammers Arbeit als Innenminister kritisiert die FPÖ jetzt aber massiv. Sie stellte auch einen Misstrauensantrag – er wurde abgelehnt.
Einiges schiefgelaufen. Am Mittwoch, 43 Stunden nach dem Anschlag, tritt Nehammer wieder vor die Kamera. Mit einer Stunde Verspätung, zuvor hatte FPÖ-Klubchef Herbert Kickl öffentlich die Ermittlungsarbeit harsch kritisiert. Nun wird sich die Dynamik der Debatte verändern. Nehammer gibt zu: „Bevor der Terroranschlag begonnen hat, ist nach derzeitigem Wissensstand offensichtlich auch einiges schiefgegangen“, sagt er. Der Mann habe das Deradikalisierungsprogramm