Ungewöhnliche Allianz gegen Schulschließungen
Wiener SPÖ, Neos und Minister Heinz Faßmann wollen die Schulen trotz steigender Corona-Zahlen offen halten. Der IHS-Chef warnt bereits vor den volkswirtschaftlichen Folgen.
Wien. Und täglich grüßt das RekordMurmeltier: 8241 neue Coronafälle binnen 24 Stunden wurden am Samstag vermeldet. Mit 57.570 gibt es nun mehr Erkrankte, als St. Pölten Einwohner hat. Weshalb es auch nicht verwunderlich war, dass Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) im ORF-Radio weitere Verschärfungen in Betracht zog: Nämlich dann, wenn über 850 Intensivbetten belegt seien. Derzeit liegen 432 Covidpatienten auf Intensivstationen. Doch die Zahlen steigen schnell.
Was dann? Viel Spielraum hat die Regierung nicht mehr. Ihre erste Option wäre wohl, nach den Oberstufen auch die Unterstufen und die Volksschüler in den Heimunterricht zu schicken. Und an genau dieser Frage scheiden sich die politischen Geister.
Die Neos starteten am Samstag eine Petition gegen weitere Schulschließungen (offeneschulen.at). In Wien präsentierten Gesundheitsstadtrat Peter Hacker und Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky (beide SPÖ) vorsorglich Zahlen, die zeigen sollen, dass die Schulen jedenfalls nicht das Problem sind: Der extreme Anstieg sei fast ausschließlich auf Personen über 20 zurückzuführen. Zuletzt wurden im WienSchnitt rund 750 Neuinfektionen pro Tag registriert. Anfang September waren es noch deutlich weniger als 200.
Bei den Unter-19-Jährigen stieg die Fallzahl weniger stark: von knapp 40 auf etwa 100. Lag der Anteil der Jungen zu Schulbeginn noch bei 21 Prozent, sank er nun auf 14. Innerhalb der Altersgruppe steckten sich vor allem 16bis 19-Jährige an. Bei Kindern unter zehn ist die Kurve deutlich flacher.
Wie ansteckend sind Kinder? Auch wenn man in den Kindergärten und Schulen eine Handvoll infizierte Kinder gefunden habe, müsse man das in Relation zur Gesamtbevölkerung sehen, sagte Hacker. „Wir können unsere Schulen und Kindergärten daher mit großer Sicherheit weiter offen halten.“Hier sei man „ganz einer Meinung“mit Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP).
Der Infektiologe Christoph Wenisch (Klinik Favoriten) sieht in den
Zahlen eine Bestätigung für die These, dass Kinder weniger Rezeptoren hätten und daher auch weniger Viren andocken könnten. „Aus diesem Grund sind Kinder auch wesentlich weniger ansteckend als Erwachsene.“
Der Mikrobiologe Michael Wagner von der Universität Wien teilt diese Meinung nicht: Kinder dürften beim Infektionsgeschehen nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn sie seltener Symptome zeigten, sagte er am Freitag in der ZiB2. Sie seien sehr wohl infektiös, egal in welchem Alter. Laut Wagner zeigt eine aktuelle Studie aus den USA, dass Kinder unter zwölf mindestens so infektiös seien wie ältere. Daher sollten sie auch getestet werden.
Einkommensverluste drohen. Der Ökonom Martin Kocher, Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), ist nicht per se gegen Schulschließungen. Aber die Frage sei, ob der Nutzen für das Infektionsgeschehen die volkswirtschaftlichen Auswirkungen rechtfertige.
Zu Hause, so Kocher, werde nun einmal weniger gelernt als im Unterricht. Und das könne langfristig Folgen für den einzelnen Schüler haben. Grundsätzlich gelte, dass ein verpasstes Schuljahr das Erwerbseinkommen im Schnitt um zehn Prozent verringert. Und zwar über das ganze Leben hinweg. Wobei Eltern hier vieles kompensieren könnten. Aber Kocher sorgt sich um Kinder aus sozial schwächeren Schichten. Weniger Unterricht könnte dazu führen, dass Schulabschlüsse nicht geschafft werden – was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöhe, arbeitslos zu werden. Und damit auch die Kosten für die öffentliche Hand.
Zudem dürfe man den „Produktivitätsverlust“jener Eltern nicht unterschätzen, die nicht arbeiten gehen könnten, weil sie daheim ihre Kinder betreuen müssten. Die Denkfabrik Agenda Austria rechnete während des ersten Lockdowns mit 100 Millionen entfallenen Arbeitsstunden und dementsprechenden Kosten von sieben Milliarden Euro. Das hält der IHS-Chef zwar für übertrieben. „Aber die Kosten gehen jedenfalls in die Milliarden.“