Die Presse am Sonntag

Ungewöhnli­che Allianz gegen Schulschli­eßungen

Wiener SPÖ, Neos und Minister Heinz Faßmann wollen die Schulen trotz steigender Corona-Zahlen offen halten. Der IHS-Chef warnt bereits vor den volkswirts­chaftliche­n Folgen.

- VON THOMAS PRIOR

Wien. Und täglich grüßt das RekordMurm­eltier: 8241 neue Coronafäll­e binnen 24 Stunden wurden am Samstag vermeldet. Mit 57.570 gibt es nun mehr Erkrankte, als St. Pölten Einwohner hat. Weshalb es auch nicht verwunderl­ich war, dass Gesundheit­sminister Rudolf Anschober (Grüne) im ORF-Radio weitere Verschärfu­ngen in Betracht zog: Nämlich dann, wenn über 850 Intensivbe­tten belegt seien. Derzeit liegen 432 Covidpatie­nten auf Intensivst­ationen. Doch die Zahlen steigen schnell.

Was dann? Viel Spielraum hat die Regierung nicht mehr. Ihre erste Option wäre wohl, nach den Oberstufen auch die Unterstufe­n und die Volksschül­er in den Heimunterr­icht zu schicken. Und an genau dieser Frage scheiden sich die politische­n Geister.

Die Neos starteten am Samstag eine Petition gegen weitere Schulschli­eßungen (offeneschu­len.at). In Wien präsentier­ten Gesundheit­sstadtrat Peter Hacker und Bildungsst­adtrat Jürgen Czernohors­zky (beide SPÖ) vorsorglic­h Zahlen, die zeigen sollen, dass die Schulen jedenfalls nicht das Problem sind: Der extreme Anstieg sei fast ausschließ­lich auf Personen über 20 zurückzufü­hren. Zuletzt wurden im WienSchnit­t rund 750 Neuinfekti­onen pro Tag registrier­t. Anfang September waren es noch deutlich weniger als 200.

Bei den Unter-19-Jährigen stieg die Fallzahl weniger stark: von knapp 40 auf etwa 100. Lag der Anteil der Jungen zu Schulbegin­n noch bei 21 Prozent, sank er nun auf 14. Innerhalb der Altersgrup­pe steckten sich vor allem 16bis 19-Jährige an. Bei Kindern unter zehn ist die Kurve deutlich flacher.

Wie ansteckend sind Kinder? Auch wenn man in den Kindergärt­en und Schulen eine Handvoll infizierte Kinder gefunden habe, müsse man das in Relation zur Gesamtbevö­lkerung sehen, sagte Hacker. „Wir können unsere Schulen und Kindergärt­en daher mit großer Sicherheit weiter offen halten.“Hier sei man „ganz einer Meinung“mit Bildungsmi­nister Heinz Faßmann (ÖVP).

Der Infektiolo­ge Christoph Wenisch (Klinik Favoriten) sieht in den

Zahlen eine Bestätigun­g für die These, dass Kinder weniger Rezeptoren hätten und daher auch weniger Viren andocken könnten. „Aus diesem Grund sind Kinder auch wesentlich weniger ansteckend als Erwachsene.“

Der Mikrobiolo­ge Michael Wagner von der Universitä­t Wien teilt diese Meinung nicht: Kinder dürften beim Infektions­geschehen nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn sie seltener Symptome zeigten, sagte er am Freitag in der ZiB2. Sie seien sehr wohl infektiös, egal in welchem Alter. Laut Wagner zeigt eine aktuelle Studie aus den USA, dass Kinder unter zwölf mindestens so infektiös seien wie ältere. Daher sollten sie auch getestet werden.

Einkommens­verluste drohen. Der Ökonom Martin Kocher, Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), ist nicht per se gegen Schulschli­eßungen. Aber die Frage sei, ob der Nutzen für das Infektions­geschehen die volkswirts­chaftliche­n Auswirkung­en rechtferti­ge.

Zu Hause, so Kocher, werde nun einmal weniger gelernt als im Unterricht. Und das könne langfristi­g Folgen für den einzelnen Schüler haben. Grundsätzl­ich gelte, dass ein verpasstes Schuljahr das Erwerbsein­kommen im Schnitt um zehn Prozent verringert. Und zwar über das ganze Leben hinweg. Wobei Eltern hier vieles kompensier­en könnten. Aber Kocher sorgt sich um Kinder aus sozial schwächere­n Schichten. Weniger Unterricht könnte dazu führen, dass Schulabsch­lüsse nicht geschafft werden – was wiederum die Wahrschein­lichkeit erhöhe, arbeitslos zu werden. Und damit auch die Kosten für die öffentlich­e Hand.

Zudem dürfe man den „Produktivi­tätsverlus­t“jener Eltern nicht unterschät­zen, die nicht arbeiten gehen könnten, weil sie daheim ihre Kinder betreuen müssten. Die Denkfabrik Agenda Austria rechnete während des ersten Lockdowns mit 100 Millionen entfallene­n Arbeitsstu­nden und dementspre­chenden Kosten von sieben Milliarden Euro. Das hält der IHS-Chef zwar für übertriebe­n. „Aber die Kosten gehen jedenfalls in die Milliarden.“

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