Der lange Weg zur Normalität
Der Terroranschlag hat die Stimmung in der Stadt über Nacht verändert: Eine kollektive Nervosität spürbar, Polizeisirenen lösen Angst aus – und die Wiener wählen öfter den Notruf.
Der Anschlag hat uns alle erschüttert, wird Teil der Stadtgeschichte bleiben.
Man kann sie fühlen. Auch wenn man sie nicht so unmittelbar festmachen kann wie die kollektive Trauer, die man inmitten des Meers aus Kerzen und Blumen, der Stille im sonst so lauten Bermudaviertel derzeit so intensiv verspürt. Aber sie ist ebenso da, die Nervosität, die Unruhe, die sich seit Montagabend über Wien gelegt hat und seither die Sicherheit, die Entspanntheit überdeckt, die die Stadt bis Montag, 20 Uhr, so selbstverständlich ausgemacht haben.
Ein Terroranschlag erschüttert eine Stadt, nimmt ihr und ihren Bewohnern das Sicherheitsgefühl. Auch unter jenen, die nicht unmittelbar betroffen waren, nicht verletzt wurden, nicht stundenlang in Lokalen, Kellern, Theatern festsaßen, entstehen Ängste, Sorgen. Nicht bei allen, aber bei vielen. „Die Stadt“, sagt die Wiener Psychotherapeutin Vivien Kain, „befindet sich derzeit in einer Unsicherheit, die sehr stark spürbar ist. Das ist eine ganz verständliche Reaktion“, sagt sie. „Die muss auch so sein.“
Auf Facebook tauschen sich Menschen aus, die ein mulmiges Gefühl dabei haben, die Kinder in die Schule zu bringen, die es derzeit Überwindung kostet, mit dem Hund eine Runde zu gehen. Eine Polizeisirene in der Ferne, sonst ein nicht weiter beachteter Teil der akustischen Großstadtkulisse, macht plötzlich nervös: Ist schon wieder etwas Schlimmes passiert?
Wie angespannt die Stimmung in der Stadt ist, ist nicht nur spürbar, es lässt sich auch in Zahlen festmachen – an der deutlichen Zunahme an Notrufen, die seit Montagabend eingehen. Eine genaue Auswertung gibt es noch nicht, die Zahl sei aber deutlich angestiegen, auf bis zu 200 Anrufe pro Stunde in den Tagen nach dem Anschlag. Viele „bezogen sich auf laufende Zugriffe und Hausdurchsuchungen, welche in den Stunden nach dem Anschlag durchgeführt wurden“, „größenteils“handelte es sich „durchaus um Anrufe, welche in Fehlalarmen mündeten“, sagt Dominik Grabner,
Sprecher bei der Wiener Polizei. Wie am Mittwoch, als nach einem Knall im Augarten mehrere Parkbesucher die Polizei alarmiert haben, zusammenliefen, sich austauschten. Die Nervosität war spürbar, mehrere Polizeiautos, auch eine schwer bewaffnete Einheit, rasten durch den Augarten. Denn ja, auch die Polizei ist nach dem Anschlag mehr als sonst in Alarmbereitschaft, nimmt Hinweise natürlich ernst.
„Im Bereich |Augarten wurden Böller abgeschossen. Daher das Polizeiaufgebot. Kein Grund zur Sorge“, twitterte die Wiener Polizei nach dem Fehlalarm. Erst wenige Stunden zuvor war die Polizei am Mittwoch mit Großaufgebot zur WU ausgerückt. Jemand hatte angeblich einen Mann mit Langwaffe am Campus gesehen, die Uni wurde gesperrt, die U2-Station ebenso. Auch hier, zum Glück: Fehlalarm.
Gestiegen ist auch die Kontaktaufnahme mit der Polizei über deren Social Media-Kanäle. „Wie sieht es im 16. aus? Waren locker um die 10 Polizeiautos vor ’ner Stunde“, fragt da etwa jemand auf Twitter nach. „Gerade auf Social Media wollen wir so klar und transparent wie möglich kommunizieren, da dies Vertrauen schafft und Ängste nimmt,“sagt Grabner. „Falschnachrichten versuchen wir als solche zu nennen. Dies gelingt uns bislang recht gut.“
Dass die Bevölkerung nach einem derartigen Anschlag nervös reagiert, wisse man aus anderen Ländern, „damit haben wir gerechnet“, sagt Grabner. „In der subjektiven Wahrnehmung werden dann Besenstiele schnell zu Gewehren und explodierende Böller zu Schusswaffen.“Die Polizeipräsenz in der Innenstadt soll, so Grabner, auch helfen, die Unsicherheit zu nehmen.
Allerdings lösen schwer bewaffnete Polizisten vor dem Stephansdom, vor
VIVIEN KAIN
Psychotherapeutin in Wien öffentlichen Gebäuden, nicht bei allen ein Sicherheitsgefühl aus, sondern mitunter das Gegenteil:. „Es kommt darauf an,“sagt Psychotherapeutin Kain, „wie man es für sich persönlich besetzt.“Für viele sei es hilfreich zu sehen, dass die Polizei uns schützt. Andere, die verängstigt kommen, sehen die Polizeipräsenz als zusätzliche Verunsicherung. Zumal dies in Wien ein ungewohnter Anblick sei. Im Gegensatz zu Ländern wie Israel oder England „haben wir uns in Wien noch nicht mit Terrorismus auseinandersetzen müssen“. In anderen Ländern hätten die Menschen schon gelernt, diese Ängste „in ihre Lebensrealität zu integrieren und das auch geschafft“.
Was dabei hilft: Die Nervosität, die Ängste ansprechen, in der Familie, mit Freunden. Und jedenfalls auch: Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, wenn man merkt, dass die Verunsicherung bleibt. Dass derzeit gemeinsam getrauert wird, kann sehr hilfreich sein, sagt Kain, „weil man sieht, dass man nicht allein ist“. Dennoch sollte sich jeder in weiterer Folge auf sich selbst beziehen, herausfinden, was ihm individuell bei der Bewältigung hilft.
Kain hält es auch für sinnvoll – sofern man nicht überängstlich ist – zu den Tatorten zu fahren, am besten mit Freunden oder Familie, „eine Kerze anzuzünden, sich selbst ein Bild zu machen“. Zu sehen, „dass es dort wieder ruhig ist. Die Fantasie ist oftmals viel größer als die Realität. Wir malen uns alles furchtbarer aus“. Wahrzunehmen, dass in der Innenstadt Normalität eingekehrt ist (sofern man im Lockdown von Normalität sprechen kann) könne helfen. Ebenso, sich die Hilfsbereitschaft in jener Nacht vor Augen zu führen, die Menschen, die ohne zu zögern füreinander da waren, „kann den Blick in die Zukunft erleichtern“.
Der Anschlag, sagt Kain, „hat uns erschüttert, uns alle, als Stadt“. Das Erlebte muss nun in den nächsten Wochen verarbeitet, integriert werden, dann wird auch, sagt Kain, „auf jeden Fall das Gefühl der Normalität in die Stadt zurückkehren“.