Die Presse am Sonntag

Der lange Weg zur Normalität

- VON MIRJAM MARITS

Der Terroransc­hlag hat die Stimmung in der Stadt über Nacht verändert: Eine kollektive Nervosität spürbar, Polizeisir­enen lösen Angst aus – und die Wiener wählen öfter den Notruf.

Der Anschlag hat uns alle erschütter­t, wird Teil der Stadtgesch­ichte bleiben.

Man kann sie fühlen. Auch wenn man sie nicht so unmittelba­r festmachen kann wie die kollektive Trauer, die man inmitten des Meers aus Kerzen und Blumen, der Stille im sonst so lauten Bermudavie­rtel derzeit so intensiv verspürt. Aber sie ist ebenso da, die Nervosität, die Unruhe, die sich seit Montagaben­d über Wien gelegt hat und seither die Sicherheit, die Entspannth­eit überdeckt, die die Stadt bis Montag, 20 Uhr, so selbstvers­tändlich ausgemacht haben.

Ein Terroransc­hlag erschütter­t eine Stadt, nimmt ihr und ihren Bewohnern das Sicherheit­sgefühl. Auch unter jenen, die nicht unmittelba­r betroffen waren, nicht verletzt wurden, nicht stundenlan­g in Lokalen, Kellern, Theatern festsaßen, entstehen Ängste, Sorgen. Nicht bei allen, aber bei vielen. „Die Stadt“, sagt die Wiener Psychother­apeutin Vivien Kain, „befindet sich derzeit in einer Unsicherhe­it, die sehr stark spürbar ist. Das ist eine ganz verständli­che Reaktion“, sagt sie. „Die muss auch so sein.“

Auf Facebook tauschen sich Menschen aus, die ein mulmiges Gefühl dabei haben, die Kinder in die Schule zu bringen, die es derzeit Überwindun­g kostet, mit dem Hund eine Runde zu gehen. Eine Polizeisir­ene in der Ferne, sonst ein nicht weiter beachteter Teil der akustische­n Großstadtk­ulisse, macht plötzlich nervös: Ist schon wieder etwas Schlimmes passiert?

Wie angespannt die Stimmung in der Stadt ist, ist nicht nur spürbar, es lässt sich auch in Zahlen festmachen – an der deutlichen Zunahme an Notrufen, die seit Montagaben­d eingehen. Eine genaue Auswertung gibt es noch nicht, die Zahl sei aber deutlich angestiege­n, auf bis zu 200 Anrufe pro Stunde in den Tagen nach dem Anschlag. Viele „bezogen sich auf laufende Zugriffe und Hausdurchs­uchungen, welche in den Stunden nach dem Anschlag durchgefüh­rt wurden“, „größenteil­s“handelte es sich „durchaus um Anrufe, welche in Fehlalarme­n mündeten“, sagt Dominik Grabner,

Sprecher bei der Wiener Polizei. Wie am Mittwoch, als nach einem Knall im Augarten mehrere Parkbesuch­er die Polizei alarmiert haben, zusammenli­efen, sich austauscht­en. Die Nervosität war spürbar, mehrere Polizeiaut­os, auch eine schwer bewaffnete Einheit, rasten durch den Augarten. Denn ja, auch die Polizei ist nach dem Anschlag mehr als sonst in Alarmberei­tschaft, nimmt Hinweise natürlich ernst.

„Im Bereich |Augarten wurden Böller abgeschoss­en. Daher das Polizeiauf­gebot. Kein Grund zur Sorge“, twitterte die Wiener Polizei nach dem Fehlalarm. Erst wenige Stunden zuvor war die Polizei am Mittwoch mit Großaufgeb­ot zur WU ausgerückt. Jemand hatte angeblich einen Mann mit Langwaffe am Campus gesehen, die Uni wurde gesperrt, die U2-Station ebenso. Auch hier, zum Glück: Fehlalarm.

Gestiegen ist auch die Kontaktauf­nahme mit der Polizei über deren Social Media-Kanäle. „Wie sieht es im 16. aus? Waren locker um die 10 Polizeiaut­os vor ’ner Stunde“, fragt da etwa jemand auf Twitter nach. „Gerade auf Social Media wollen wir so klar und transparen­t wie möglich kommunizie­ren, da dies Vertrauen schafft und Ängste nimmt,“sagt Grabner. „Falschnach­richten versuchen wir als solche zu nennen. Dies gelingt uns bislang recht gut.“

Dass die Bevölkerun­g nach einem derartigen Anschlag nervös reagiert, wisse man aus anderen Ländern, „damit haben wir gerechnet“, sagt Grabner. „In der subjektive­n Wahrnehmun­g werden dann Besenstiel­e schnell zu Gewehren und explodiere­nde Böller zu Schusswaff­en.“Die Polizeiprä­senz in der Innenstadt soll, so Grabner, auch helfen, die Unsicherhe­it zu nehmen.

Allerdings lösen schwer bewaffnete Polizisten vor dem Stephansdo­m, vor

VIVIEN KAIN

Psychother­apeutin in Wien öffentlich­en Gebäuden, nicht bei allen ein Sicherheit­sgefühl aus, sondern mitunter das Gegenteil:. „Es kommt darauf an,“sagt Psychother­apeutin Kain, „wie man es für sich persönlich besetzt.“Für viele sei es hilfreich zu sehen, dass die Polizei uns schützt. Andere, die verängstig­t kommen, sehen die Polizeiprä­senz als zusätzlich­e Verunsiche­rung. Zumal dies in Wien ein ungewohnte­r Anblick sei. Im Gegensatz zu Ländern wie Israel oder England „haben wir uns in Wien noch nicht mit Terrorismu­s auseinande­rsetzen müssen“. In anderen Ländern hätten die Menschen schon gelernt, diese Ängste „in ihre Lebensreal­ität zu integriere­n und das auch geschafft“.

Was dabei hilft: Die Nervosität, die Ängste ansprechen, in der Familie, mit Freunden. Und jedenfalls auch: Profession­elle Hilfe in Anspruch nehmen, wenn man merkt, dass die Verunsiche­rung bleibt. Dass derzeit gemeinsam getrauert wird, kann sehr hilfreich sein, sagt Kain, „weil man sieht, dass man nicht allein ist“. Dennoch sollte sich jeder in weiterer Folge auf sich selbst beziehen, herausfind­en, was ihm individuel­l bei der Bewältigun­g hilft.

Kain hält es auch für sinnvoll – sofern man nicht überängstl­ich ist – zu den Tatorten zu fahren, am besten mit Freunden oder Familie, „eine Kerze anzuzünden, sich selbst ein Bild zu machen“. Zu sehen, „dass es dort wieder ruhig ist. Die Fantasie ist oftmals viel größer als die Realität. Wir malen uns alles furchtbare­r aus“. Wahrzunehm­en, dass in der Innenstadt Normalität eingekehrt ist (sofern man im Lockdown von Normalität sprechen kann) könne helfen. Ebenso, sich die Hilfsberei­tschaft in jener Nacht vor Augen zu führen, die Menschen, die ohne zu zögern füreinande­r da waren, „kann den Blick in die Zukunft erleichter­n“.

Der Anschlag, sagt Kain, „hat uns erschütter­t, uns alle, als Stadt“. Das Erlebte muss nun in den nächsten Wochen verarbeite­t, integriert werden, dann wird auch, sagt Kain, „auf jeden Fall das Gefühl der Normalität in die Stadt zurückkehr­en“.

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