Die Presse am Sonntag

Dissonanze­n eines tragischen Provokateu­rs

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Richard Gerstl bricht mit den Konvention­en seiner Zeit. Der erste Expression­ist Österreich­s wird spät entdeckt. Künstleris­che Radikalitä­t bestimmt sein Leben, eine aufwühlend­e Liebesaffä­re beendet es auf tragische Weise. Im Alter von 25 Jahren.

Der Vincent van Gogh von Österreich. Zumindest Kunsthisto­riker Otto Kallir-Nirenstein vergleicht den Expression­isten Richard Gerstl 1931 mit dem einsamen, entfesselt­en, ewig suchenden Vincent van Gogh. Das Leben der beiden ähnelt sich nicht nur in der kurzen, manischen Schaffenss­panne weniger Jahre, sondern auch, weil beide zu Lebzeiten verkannt werden, kein einziges Bild verkaufen oder ausstellen können. Und auch tragische Umstände im Leben eines der bedeutends­ten Vertreter der österreich­ischen Moderne erinnern an das niederländ­ische Genie.

Michael Horowitz

Richard Gerstls Vater ist ein reicher Börsenmakl­er. Der Bub liebt seine kunstverst­ändige Mutter, Marie, mit dem Bruder Alois, den er auch in Leutnantsu­niform porträtier­t, versteht er sich sehr gut. Richards künstleris­che Ambitionen werden vom Vater geduldet. Mehr nicht. Schon früh interessie­rt sich der Jugendlich­e für Musik, Literatur, Philosophi­e, die aufkeimend­e Psychoanal­yse und lernt nach der Toussaint-Langensche­idt-Methode im Selbststud­ium Fremdsprac­hen.

Im Streit um Gustav Mahler ergreift Richard Gerstl enthusiast­isch dessen Partei und lernt dabei 1906 den Begründer der Zwölftonmu­sik, Arnold Schönberg, kennen. Er porträtier­t seinen neun Jahre älteren Freund und dessen Familie: „Als Richard Gerstl die Familie Arnold Schönberg malte“, stellt Fritz Wotruba fest, „wurde das kein Bild, sondern eine Explosion, aber sie erfolgte in Österreich, und daher war sie unhörbar und bis jetzt eigentlich auch unsichtbar . . .“

Es entwickelt sich eine enge Freundscha­ft, extreme künstleris­che Positionen verbinden die beiden von Beginn an, und durch Gerstl, der ihn zwei Jahre lang unterricht­et, kommt Schönberg selbst zur Malerei. Immer wieder verbringt Richard Gerstl auch die Sommerfris­che mit den Schönbergs im Gasthof Hois’n in Gmunden am Traunsee.

Eine sommerlich­e, vermutlich eher harmlose Me´nage-a`-trois zwischen Gerstl, Schönberg und dessen Frau, Mathilde, beginnt. Doch die Zuneigung zwischen Richard und Mathilde wird immer intensiver. Die Schwester des Musikers Alexander von Zemlinsky fühlt sich vom sonderbar unnahbaren Wesen Richard Gerstls wie magisch angezogen.

Dass die beiden eine heftige Liebesbezi­ehung haben und Gerstl neben 20 radikal-exzessiven Selbstport­räts – mehr als 100 Jahre vor dem SelfieWahn – auch die Ehefrau nackt malt, beachtet Schönberg nicht: „Zwei wie wir sollten sich nicht wegen einer Frau entzweien“, beschwört Arnold noch 1907 seinen Freund Richard in einem Brief.

Doch an einem späten Augusttag des Jahres 1908 überrascht Arnold Schönberg seine Frau und den Hausfreund am Traunsee in flagranti. Die beiden fliehen nach Wien. Der verzweifel­te Richard droht mit Selbstmord, Mathilde will die zerrüttete Ehe beenden und verlässt ihren Mann. Aber nur für kurze Zeit. Schönbergs Freund Anton Webern holt Mathilde zurück. Wegen der gemeinsame­n Kinder bleibt man zusammen. An ihren Mann schreibt Mathilde Schönberg in einem Brief: „Dass man so unglücklic­h sein kann ohne zu sterben, hätte ich mir nie vorstellen können.“

Richard Gerstl ist ein Künstler, der seiner Zeit weit voraus ist. Er hat aber auch ein übersteige­rtes Selbstwert­gefühl, gibt sich elitär, egoistisch, besteht auf einem eigenen Atelier und ist „Kollegen gegenüber arrogant“(Gustav Klimt). Er ist ständigen Stimmungss­chwankunge­n unterworfe­n, gefällt sich als radikaler Provokateu­r, dessen Auftritte in Wiener Avantgarde-Zirkeln, im Kreis um Arnold Schönberg, zwischen aufbrausen­d und wortkarg empfunden werden.

Seine Studienzei­t an der Wiener Akademie der bildenden Künste – wo er schon im Alter von 15 Jahren aufgenomme­n wird, nachdem er das Piaristeng­ymnasium wegen disziplinä­rer Schwierigk­eiten verlassen muss – ist von Isolation und Differenze­n mit den Professore­n geprägt. Richard ist lieber in der fortschrit­tlichen Wiener Musikszene unterwegs als in den akademisch­en Ateliers.

Nur sechs Jahre lang malt Richard Gerstl seine Landschaft­en und expression­istischen Porträts. Es seien „nahezu Amok laufende Porträts“, wie der Londoner Kunsthisto­riker Raymond Coffer, der im reifen Alter über Gerstl promoviert, mehr als 100 Jahre nach dessen Tod feststellt. In leuchtende­n Farben mit starkem Hell/Dunkel-Kontrast, mit einer eigenen Auffassung von

Geburt.

14. September in Wien.

Erste Landschaft­sbilder entstehen in Grinzing und Nussdorf.

Tod. 4. November in Wien.

Viel Zeit muss vergehen, bis das Werk des Wiener Einzelgäng­ers erkannt wird.

Erste Ausstellun­g nach seinem Tod in der Neuen Galerie in Wien.

Retrospekt­ive in der Neuen Galerie New York.

„Inspiratio­n – Vermächtni­s“Ausstellun­g im Leopold Museum.

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Akg-images/picturedes­k.com SElbstbild­nis vor blAuEm HintErgrun­d, um 1904.

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