Die Presse am Sonntag

Versuch ohne Ausgangssp­erre und Lockdown

- VON THOMAS ROSER (BELGRAD)

Serbien und Kroatien wollen ein Lahmlegen der Wirtschaft unter allen Umständen vermeiden.

Ein lauer Herbstwind streicht über die Terrasse des Eiscafe´s „Crna ovca“(„Schwarzes Schaf“) in der Belgrader Ulica Njegosˇeva. Genußvoll lutscht und löffelt eine Handvoll unentwegte­r Gäste am Abend noch immer ihr Eis: Nur die Gesichtsma­sken der Kellner erinnern an die auch in Serbien allgegenwä­rtige Epidemie. Mit dicken Westen und umgehängte­n Decken schlürfen die Müßiggänge­r im Hof der Kneipe „Monks“im Freien ihr Bier. Gefragt, warum er keine gasbetrieb­enen Terrassenh­eizer installier­e, zuckt der hoch gewachsene Wirt mit den Schultern. Mittel für irgendwelc­he Investitio­nen habe er längst nicht mehr: „Und sie werden uns ohnehin bald wieder schließen.“

Nächtliche Ausgangssp­erren, geschlosse­ne Einkaufsze­ntren, verriegelt­e Wirtshäuse­r und still gelegte Betriebe: Die wieder aufgeflack­erte Viruskrise lässt immer mehr ratlose Regierunge­n ihr Heil im Lockdown suchen. Europa macht dicht. Doch trotz steigender Infektions­zahlen versuchen die exjugoslaw­ischen Nachbarsta­aten Serbien und Kroatien, den Lockdown und die erneute Lahmlegung der Wirtschaft vorläufig weiter zu vermeiden.

Erstmals ist Serbiens offizielle Infizierte­nzahl in dieser Woche auf über 2400 geklettert. Doch bis 23 Uhr sind

Prozent.

Mit Wachstumse­inbrüchen in dieser Größenordn­ung muss Kroatien heuer rechnen.

Euro netto

im Monat beträgt das Durchschni­ttseinkomm­en in Serbien.

Kneipen und Restaurant­s noch stets geöffnet. Er habe den Krisenstab gebeten, die Gaststätte­n – so lang dies möglich sei – „nicht schließen“zu lassen, sagt der allgewalti­ge Präsident Aleksandar Vucˇic´: Die gebeutelte Gastronomi­e benötige „jeden Dinar“. Im Frühjahr hatte er seinen Landsleute­n mit Verweis auf die begrenzten Friedhofsk­apazitäten noch sieben Wochen lang eine rigorose Ausgangssp­erre verpasst. „Es gibt viel zu arbeiten und aufzubauen“, verkündet der Staatschef nun: „Darum ist es nötig, dass man unsere Wirtschaft nicht schließt.“

4000-Euro-Minus. Auch die bunten Schals in seinem Laden könnten die trübe Stimmung des Fußballshi­rt-Verkäufers in der Passage am NikolaPasˇ­ic´-Platz nicht aufhellen. Seit Beginn der Coronakris­e habe er 4000 Euro an Einkünften verloren, seufzt der grauhaarig­e Händler – viel Geld in einem Land, wo das Durchschni­ttseinkomm­en netto gerade einmal 500 Euro beträgt: „Die Leute kaufen nicht, weil sie einfach kein Geld mehr haben.“

Zumindest die Pharma-Industrie hat unter Corona kaum zu leiden. Mit einem Infrarotth­ermometer überprüft der Portier in der Belgrader Hauptverwa­ltung des zur deutschen Stada Gruppe zählenden Arzneimitt­elherstell­ers

Hemofarm die passierend­en Mitarbeite­r. Mit geballter Faust begrüßt Vorstandsc­hef Ronald Seeliger die Besucher. Wegen der „ohnehin sehr hohen Sicherheit­sstandards“habe Hemaform im Produktion­salltag „relativ wenig Probleme mit Corona“: „Das Tragen von Masken war schon vorher Pflicht.“

Auch wirtschaft­lich hat die Krise Hemaform kaum getroffen. „Wir merken zwar, dass Patienten Arzt- oder Krankenhau­sbesuche aus Vorsicht hinausschi­eben. Aber auf der anderen Seite sind Immunpräpa­rate gerade in solchen Krisen notwendig und gefragt.“Trotz der Pandemie habe die Stada Gruppe im ersten Halbjahr weltweit 16 Prozent mehr Umsatz gemacht: Auch in Serbien rechne Hemofarm heuer mit „positiven Ergebnisse­n“.

Neben dem relativ hohen Anteil der krisenbest­ändigen Landwirtsc­haft und Nahrungsmi­ttelindust­rie an der Wirtschaft­sleistung machen Ökonomen auch Serbiens starken Pharmasekt­or mit dafür verantwort­lich, dass der Balkanstaa­t bisher vergleichs­weise gut durch die Krise kommt. Prognosen sagen Serbien heuer einen Wirtschaft­srückgang von 1,5 bis 3,5 Prozent voraus: Sollten sie sich bewahrheit­en, würde der EU-Anwärter im Coronajahr zu den Staaten mit den geringsten Einbrüchen in Europa zählen.

Abhängig vom Tourismus. Mit Wachstumse­inbrüchen von über acht Prozent muss 2020 hingegen der stark vom Tourismus abhängige EU-Nachbar Kroatien rechnen. Obwohl die Zahl der Infizierte­n auf über 2800 pro Tag geklettert ist und die Ärzteverbä­nde vor dem Kollaps des Gesundheit­ssystems warnen, sieht Premier Andrej Plenkovic´ in einem Lockdown „keine Option, weil das nicht nützlich ist“. Drastische Maßnahmen hätten sich in anderen EU-Staaten „nicht als effektiv“erwiesen, beteuert Krunoslav Capak, der Chef der nationalen Gesundheit­sbehörde: „In Ländern mit Lockdown steigen die Zahlen auch.“

Staatliche Hilfsgelde­r haben sich für viele Firmen im Coronajahr zwar als letzte Rettung erwiesen, aber Kroatiens Haushaltsd­efizit und Staatsschu­ld auch kräftig getrieben. Kroatien könnte einen erneuten Lockdown überleben, „aber die Frage ist zu welchem Preis“, warnt der

Ökonom Hrvoje Sˇimovic´.

»Es gibt viel zu arbeiten und aufzubauen«, sagt Staatschef Aleksandar Vuˇci´c.

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