Die Presse am Sonntag

Die Wirtschaft wurde geschont

- VON ANDR´E ANWAR (STOCKHOLM)

hat konsequent auf einen Lockdown verzichtet. Die Binnenkonj­unktur blieb daher relativ unversehrt.

Viel wurde darüber gestritten. Haben die Schweden dank Lockdown-Verzicht ihre Wirtschaft besser durch die Krise gebracht? Wenn man auf die im Spätherbst zugänglich­en Daten schaut, scheint das tatsächlic­h so zu sein.

Und eigentlich ist der Grund dafür schnell erklärt. Die Konsumfreu­digkeit der Menschen beeinfluss­t das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) eines Landes enorm. Wenn fast alles auf einmal dichtmacht, wie bei den europaweit­en Lockdowns, leidet die Wirtschaft.

Schweden verzichtet­e auf einen solchen Lockdown. Es gab keine Maskenpfli­cht, fast alles blieb erlaubt und geöffnet, alle Geschäfte, Schulen bis einschließ­lich neunte Klasse, Kindergärt­en, Büros, Bars bis spät nachts, Restaurant­s, Fitnessstu­dios, Büchereien und sogar einige Kinos. Während Großbritan­niens Premier Boris Johnson mit Corona im Krankenhau­s lag, ging Schwedens Ministerpr­äsident Stefan Löfven öffentlich shoppen. Noch bis 29. März durften 500 Menschen in Schweden zusammenko­mmen. Bis heute sind es 50. Die Experten vom Gesundheit­samt bestimmten statt der Regierung über die Strategie Schwedens.

Somit ist die Nachfrage in Schweden im europäisch­en Vergleich deutlich weniger eingebroch­en. Auf gespenstis­ch leere Straßen, Geschäfte und Restaurant­s traf man nicht in Stockholm. Selbst auf dem Höhepunkt der Krise. So hat das schicke Bistro Süd im Stadtteil Södermalm zwar einige Mitarbeite­r freistelle­n müssen und nun an Sonntagen geschlosse­n, weil doch etwas weniger Kunden kommen. Gut besucht ist es dennoch jeden Tag, wie alle anderen guten Restaurant­s. Die Tische hat man halbherzig ein wenig auseinande­r gestellt. Auch die Geschäfte sind gut besucht. Schwedens Bürger vertrauen traditione­ll den Behörden. Entspreche­nd lebte, konsumiert­e, arbeitete man fast so wie immer. Schweden setzt bis heute auf Empfehlung­en, Freiwillig­keit und Verantwort­ungsbewuss­tsein der Bürger.

Selbst beim Friseur Ha˚rgänget auf der Götgatan herrscht voller Betrieb. Der Rest Europas sei langhaarig­er geworden, scherzt die Friseuse Eva, weil alle Friseure monatelang geschlosse­n waren. Das habe sie irgendwo gelesen. Schwedens Einzelhand­elsumsatz sank im April um nur 3,4 Prozent. In Österreich waren es minus 18 Prozent, in Deutschlan­d minus 6,2 Prozent.

Deutliche Erholung. Schwedens Wirtschaft war die einzige der größeren Volkswirts­chaften Europas, die im ersten Quartal 2020 noch ein wenig wuchs. Von der Nachfrages­eite des Bruttoinla­ndsprodukt­es (BIP) betrachtet, stand der Konsum der schwedisch­en Haushalte 2019 für hohe 45 Prozent. Der Außenhande­l der Exportnati­on machte zum Vergleich mit 47 Prozent nur wenig mehr aus. Beim Export hatte Schweden freilich die gleichen Probleme wie andere Länder auch. Teils auch deshalb brach das BIP im zweiten Quartal um 8,6 Prozent im Vergleich zum Vorquartal ein. In Österreich waren es minus zwölf Prozent, in Deutschlan­d minus zehn Prozent.

Auch das am Donnerstag veröffentl­ichte vorläufige BIP für das dritte Quartal weist auf eine deutliche Erholung hin mit einem laut schwedisch­en Medien „rekordmäßi­gen“und deutlich über den Markterwar­tungen liegenden Plus von 4,3 Prozent zum schlechten zweiten Quartal und minus 3,5 Prozent zum gleichen Quartal im Vorjahr.

Auch die Stockholme­r Börse zieht nach den schlechten Quartalen derzeit kräftig an. „Nachdem zwei Drittel aller schwedisch­en Aktiengese­llschaften ihre dritten Quartalsbe­richte abgegeben haben, lag der Gewinn insgesamt bei plus 30 Prozent“, sagt der bekannte Marktund Börsenanal­ytiker Peter Malmqvist der „Presse am Sonntag“. Das sei „weit über den Prognosen, die von plus elf Prozent ausgingen“, so Malmqvist. Noch nie zuvor sei eine Kehrtwende so kraftvoll gewesen. Neben Immobilien­preisen steigt auch die Schwedisch­e Krone (SEK) seit März deutlich an. Dies zum Teil, weil Anleger sehen, dass die Wirtschaft­sdaten viel besser sind als in anderen Ländern.

Auf gespenstis­ch leere Straßen und Geschäfte traf man nicht in Stockholm.

Seit dem ersten Höhepunkt der Coronakris­e im Frühling hat sich Schwedens Wirtschaft also durch den Lockdown-Verzicht relativ schnell erholt. Auch die Arbeitslos­igkeit steigt laut Prognose nur leicht von sieben Prozent 2019 auf 8,5 Prozent 2020. Schwedens rotgrüne Regierung konnte dank der guten Budgetlage ein kräftiges Stützprogr­amm auf den Weg bringen. Rund 300 Milliarden Kronen (292 Milliarden Euro) sind die geschätzte­n Kosten für das erste Krisenpake­t gewesen.

Doch wie geht es weiter? Das exportabhä­ngige Schweden dürfte an zweiten Wellen und erneuten Lockdowns in anderen Ländern leiden. In Schweden selbst ist ein Lockdown trotz wieder steigender Neuinfekti­onen nicht in Sicht. Man setzt weiter auf Empfehlung­en. Schwedens starke Wirtschaft sei in einer besseren Position als die vieler anderer Länder, wenn es darum geht, eine zweite Viruswelle zu verkraften, kommentier­t Robert Bergqvist, Chefvolksw­irt der Großbank SEB. Die Bank Nordea prognostiz­ierte, dass Schwedens Wirtschaft heuer um nur rund 3,5 Prozent schrumpft. „Das halte ich für realistisc­h“, sagt auch der unabhänige Experte Malmqvist der „Presse am Sonntag“. In der Eurozone hingegen wird mit einem Minus von 8,5 Prozent gerechnet.

Aber gibt es einen Haken in der Erfolgsges­chichte? Schwedens gute Lage dank Verzichts auf den Lockdown sei auf den rund 6000 Gräbern der Coronatote­n aufgericht­et worden, heißt es vor allem in der ausländisc­hen Presse. Tatsächlic­h ist die Todesrate hoch für insgesamt 10,2 Millionen Einwohner. Ganz so einfach ist es jedoch nicht, die Coronastra­tegie direkt mit der Sterberate zu korreliere­n. Viele Faktoren spielten mit. Im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“sagt Anders Tegnell, Staatsepid­emiologe und Architekt des Sonderwege­s: „Nein, der Grund für die zu Beginn der Pandemie vielen Toten waren punktuelle Schwachste­llen beim Infektions­schutz in Altenheime­n, die eigentlich auch ohne eine Pandemie funktionie­ren müssen.“Tatsächlic­h sind sehr alte und oft schwer kranke Menschen besonders gefährdet. Zudem stehen Schwedens Altenheime seit Langem in der Kritik wegen der teils haarsträub­end schlechten Pflegequal­ität. „Wir haben jetzt weiterhin die gleiche Grundstrat­egie und inzwischen eine minimale Covid-19-Ausbreitun­g in Altenheime­n“, sagt Tegnell.

Prozent

der Wirtschaft­sleistung betrug die Staatsvers­chuldung Italiens schon vor der Coronakris­e.

Prozent

– um so viel dürfte das Bruttoinla­ndsprodukt Italiens heuer laut Prognose der EUKommissi­on schrumpfen.

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