Die Wirtschaft wurde geschont
hat konsequent auf einen Lockdown verzichtet. Die Binnenkonjunktur blieb daher relativ unversehrt.
Viel wurde darüber gestritten. Haben die Schweden dank Lockdown-Verzicht ihre Wirtschaft besser durch die Krise gebracht? Wenn man auf die im Spätherbst zugänglichen Daten schaut, scheint das tatsächlich so zu sein.
Und eigentlich ist der Grund dafür schnell erklärt. Die Konsumfreudigkeit der Menschen beeinflusst das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes enorm. Wenn fast alles auf einmal dichtmacht, wie bei den europaweiten Lockdowns, leidet die Wirtschaft.
Schweden verzichtete auf einen solchen Lockdown. Es gab keine Maskenpflicht, fast alles blieb erlaubt und geöffnet, alle Geschäfte, Schulen bis einschließlich neunte Klasse, Kindergärten, Büros, Bars bis spät nachts, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und sogar einige Kinos. Während Großbritanniens Premier Boris Johnson mit Corona im Krankenhaus lag, ging Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven öffentlich shoppen. Noch bis 29. März durften 500 Menschen in Schweden zusammenkommen. Bis heute sind es 50. Die Experten vom Gesundheitsamt bestimmten statt der Regierung über die Strategie Schwedens.
Somit ist die Nachfrage in Schweden im europäischen Vergleich deutlich weniger eingebrochen. Auf gespenstisch leere Straßen, Geschäfte und Restaurants traf man nicht in Stockholm. Selbst auf dem Höhepunkt der Krise. So hat das schicke Bistro Süd im Stadtteil Södermalm zwar einige Mitarbeiter freistellen müssen und nun an Sonntagen geschlossen, weil doch etwas weniger Kunden kommen. Gut besucht ist es dennoch jeden Tag, wie alle anderen guten Restaurants. Die Tische hat man halbherzig ein wenig auseinander gestellt. Auch die Geschäfte sind gut besucht. Schwedens Bürger vertrauen traditionell den Behörden. Entsprechend lebte, konsumierte, arbeitete man fast so wie immer. Schweden setzt bis heute auf Empfehlungen, Freiwilligkeit und Verantwortungsbewusstsein der Bürger.
Selbst beim Friseur Ha˚rgänget auf der Götgatan herrscht voller Betrieb. Der Rest Europas sei langhaariger geworden, scherzt die Friseuse Eva, weil alle Friseure monatelang geschlossen waren. Das habe sie irgendwo gelesen. Schwedens Einzelhandelsumsatz sank im April um nur 3,4 Prozent. In Österreich waren es minus 18 Prozent, in Deutschland minus 6,2 Prozent.
Deutliche Erholung. Schwedens Wirtschaft war die einzige der größeren Volkswirtschaften Europas, die im ersten Quartal 2020 noch ein wenig wuchs. Von der Nachfrageseite des Bruttoinlandsproduktes (BIP) betrachtet, stand der Konsum der schwedischen Haushalte 2019 für hohe 45 Prozent. Der Außenhandel der Exportnation machte zum Vergleich mit 47 Prozent nur wenig mehr aus. Beim Export hatte Schweden freilich die gleichen Probleme wie andere Länder auch. Teils auch deshalb brach das BIP im zweiten Quartal um 8,6 Prozent im Vergleich zum Vorquartal ein. In Österreich waren es minus zwölf Prozent, in Deutschland minus zehn Prozent.
Auch das am Donnerstag veröffentlichte vorläufige BIP für das dritte Quartal weist auf eine deutliche Erholung hin mit einem laut schwedischen Medien „rekordmäßigen“und deutlich über den Markterwartungen liegenden Plus von 4,3 Prozent zum schlechten zweiten Quartal und minus 3,5 Prozent zum gleichen Quartal im Vorjahr.
Auch die Stockholmer Börse zieht nach den schlechten Quartalen derzeit kräftig an. „Nachdem zwei Drittel aller schwedischen Aktiengesellschaften ihre dritten Quartalsberichte abgegeben haben, lag der Gewinn insgesamt bei plus 30 Prozent“, sagt der bekannte Marktund Börsenanalytiker Peter Malmqvist der „Presse am Sonntag“. Das sei „weit über den Prognosen, die von plus elf Prozent ausgingen“, so Malmqvist. Noch nie zuvor sei eine Kehrtwende so kraftvoll gewesen. Neben Immobilienpreisen steigt auch die Schwedische Krone (SEK) seit März deutlich an. Dies zum Teil, weil Anleger sehen, dass die Wirtschaftsdaten viel besser sind als in anderen Ländern.
Auf gespenstisch leere Straßen und Geschäfte traf man nicht in Stockholm.
Seit dem ersten Höhepunkt der Coronakrise im Frühling hat sich Schwedens Wirtschaft also durch den Lockdown-Verzicht relativ schnell erholt. Auch die Arbeitslosigkeit steigt laut Prognose nur leicht von sieben Prozent 2019 auf 8,5 Prozent 2020. Schwedens rotgrüne Regierung konnte dank der guten Budgetlage ein kräftiges Stützprogramm auf den Weg bringen. Rund 300 Milliarden Kronen (292 Milliarden Euro) sind die geschätzten Kosten für das erste Krisenpaket gewesen.
Doch wie geht es weiter? Das exportabhängige Schweden dürfte an zweiten Wellen und erneuten Lockdowns in anderen Ländern leiden. In Schweden selbst ist ein Lockdown trotz wieder steigender Neuinfektionen nicht in Sicht. Man setzt weiter auf Empfehlungen. Schwedens starke Wirtschaft sei in einer besseren Position als die vieler anderer Länder, wenn es darum geht, eine zweite Viruswelle zu verkraften, kommentiert Robert Bergqvist, Chefvolkswirt der Großbank SEB. Die Bank Nordea prognostizierte, dass Schwedens Wirtschaft heuer um nur rund 3,5 Prozent schrumpft. „Das halte ich für realistisch“, sagt auch der unabhänige Experte Malmqvist der „Presse am Sonntag“. In der Eurozone hingegen wird mit einem Minus von 8,5 Prozent gerechnet.
Aber gibt es einen Haken in der Erfolgsgeschichte? Schwedens gute Lage dank Verzichts auf den Lockdown sei auf den rund 6000 Gräbern der Coronatoten aufgerichtet worden, heißt es vor allem in der ausländischen Presse. Tatsächlich ist die Todesrate hoch für insgesamt 10,2 Millionen Einwohner. Ganz so einfach ist es jedoch nicht, die Coronastrategie direkt mit der Sterberate zu korrelieren. Viele Faktoren spielten mit. Im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“sagt Anders Tegnell, Staatsepidemiologe und Architekt des Sonderweges: „Nein, der Grund für die zu Beginn der Pandemie vielen Toten waren punktuelle Schwachstellen beim Infektionsschutz in Altenheimen, die eigentlich auch ohne eine Pandemie funktionieren müssen.“Tatsächlich sind sehr alte und oft schwer kranke Menschen besonders gefährdet. Zudem stehen Schwedens Altenheime seit Langem in der Kritik wegen der teils haarsträubend schlechten Pflegequalität. „Wir haben jetzt weiterhin die gleiche Grundstrategie und inzwischen eine minimale Covid-19-Ausbreitung in Altenheimen“, sagt Tegnell.
Prozent
der Wirtschaftsleistung betrug die Staatsverschuldung Italiens schon vor der Coronakrise.
Prozent
– um so viel dürfte das Bruttoinlandsprodukt Italiens heuer laut Prognose der EUKommission schrumpfen.