Wenn jeder Tag der schlimmste ist
Italien verschärft seine Coronamaßnahmen zusehends, die Wirtschaft des Landes leidet.
Das Coronavirus hat erledigt, was zwei Wirtschaftskrisen nicht geschafft haben: Es hat Italien seine Unbeschwertheit genommen, für die das Land weltberühmt ist. Seit Wochen herrscht bedrückte Stimmung, in den Straßen der Hauptstadt ist sie Anfang November fast mit den Händen zu greifen.
„Dieser Albtraum muss endlich enden“, sagt die Restaurantbesitzerin Lia Oltean (58), dunkelblaue Brille, Haarknoten auf dem Kopf, das Gesicht von Sorgen und Müdigkeit gezeichnet. Sie betreibt seit 28 Jahren im römischen InViertel Monti das „Gli Angeletti“. Es liegt an der beliebtesten Piazza der Nachbarschaft und war früher stets mit Touristen und Einheimischen gefüllt. Heute blickt Oltean auf leere Tische, obwohl Mittagszeit ist. „Normalerweise bedienen wir 300 Gäste pro Tag. Gestern waren es drei. Das war der schlimmste Tag, den wir je hatten“, sagt sie und fragt: „Wie soll es bloß mit uns weitergehen?“Oltean ist mit ihrer Unsicherheit nicht allein. Seit der italienische Ministerpräsident Guiseppe Conte vor drei Wochen die Corona-Vorsichtsmaßnahmen verschärft und angeordnet hat, dass Restaurants, Bars und Cafe´s um 18 Uhr schließen müssen, ist der Verdruss groß und kippt mancherorts in Verzweiflung. Zwischenzeitlich gab es von Turin bis Palermo gewalttätige Proteste gegen die Maßnahmen, bei der die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die überwiegend jungen Unruhestifter vorging.
Am Freitag wurden die Einschränkungen erneut verschärft. Zwischen 22 und fünf Uhr gilt eine landesweite Ausgangssperre, Fitnessstudios, Museen, Theater und Kinos müssen schließen. Es gibt Obergrenzen für den öffentlichen Nahverkehr, Fernunterricht für ältere Klassen und Einkaufszentren bleiben am Wochenende geschlossen. Zusätzlich
ist Italien jetzt dreigeteilt: Je nach Infektionsgeschehen sind die Regionen in gelbe, orangefarbene und rote Zonen unterteilt, in denen jeweils härtere Maßnahmen gelten.
Bangen um die Existenz. In roten Regionen (derzeit das Aostatal, Piemont, die Lombardei und Kalabrien) sind alle Geschäfte bis auf Supermärkte und Apotheken geschlossen und die Bevölkerung darf ihr Zuhause nur verlassen, um zur Arbeit oder einkaufen zu gehen. Der Großteil des Landes (15 von 20 Regionen) befindet sich zwar noch auf der niedrigsten Stufe, doch selbst die lässt viele um ihre Existenz bangen. „Ich kenne viele Unternehmer, die diese erneute Schließung nicht überstehen werden“, sagt Oltean und blickt auf ihre Hände. Den ersten Lockdown hätten sie gerade noch verkraftet, der zweite gebe ihnen den Todesstoß. „Vor allem, weil damals auf den Lockdown der
Sommer folgte. Aber die Monate Jänner, Februar und März sind auch ohne Corona schon schwierig genug.“
Doch Ministerpräsident Giuseppe Conte nannte die Situation bei der Verkündung der neuen Maßnahmen „alternativlos“: „Wir müssen uns diesen Einschränkungen stellen, um den Anstieg der Ansteckungskurve einzufrieren. Wir verstehen das Unbehagen, die Frustration und das psychische Leiden, aber wir müssen durchhalten.“
Besonders hart trifft es, wie in der ersten Welle, Selbstständige und Kleinunternehmer, die einen großen Teil der italienischen Wirtschaftskraft ausmachen. Während größere Betriebe einfacheren Zugang zu Krediten und Staatshilfen haben, ist dieser für Kleinunternehmer oft bürokratisch und umständlich. Schon bei der ersten Welle trafen die Staatshilfen bei vielen Menschen nur teilweise oder stark verzögert ein.
Conte weiß um diese Probleme und verkündete daher im gleichen Atemzug mit den neuen Restriktionen, die Regierung arbeite bereits daran, die wirtschaftlichen Folgen abzumildern. Abhilfe soll das Dekret „Ristori“schaffen, das Ende Oktober verabschiedet wurde und den vom zweiten Lockdown besonders betroffenen Arbeitern und Unternehmen Hilfen von insgesamt fünf Mrd. Euro zusichert.
Doch auch diese Hilfen sind nicht für alle erreichbar. Adriano Santoloci (87) etwa, der ein paar Meter vom „Gli Angeletti“entfernt seinen Herrenfriseursalon betreibt, bekommt keine Hilfszahlungen, weil er bereits Rente bezieht. Doch weil diese nicht ausreicht, betreibt er seinen Salon auch im hohen Alter weiter. Fragt man ihn nach seiner Zukunft, steigen ihm die Tränen in die Augen. „Ich habe große Angst. Momentan habe ich kaum genug Geld, um Essen einzukaufen“, erzählt er.
Wie in der ersten Welle trifft es Kleinunternehmer und Selbstständige besonders.
Auch für ihn gibt es in dieser Mittagspause keine Kundschaft. Die Angestellten der italienischen Nationalbank, die normalerweise nebenan arbeiten und Santolocis Kunden sind, sind wieder überwiegend ins Home-Office zurückgekehrt. „Das Geschäft hatte gerade langsam Fahrt aufgenommen und jetzt ist alles schon wieder vorbei. Das ist doch schrecklich“, klagt er.
Was Santoloci im Kleinen erlebt, spürt die gesamte italienische Wirtschaft: Durch den ersten Lockdown erlitt das Land die schwersten wirtschaftlichen Schäden seit dem zweiten Weltkrieg. Für heuer erwartet die EU-Kommission, dass Italien den zweithöchsten Rückgang aller EU-Länder um 9,9 Prozent der Wirtschaftsleistung erleidet – nur Spanien wird mit minus 12,4 Prozent noch schlechter dastehen.
Die Krise trifft Italiens Wirtschaft auch deshalb besonders hart, weil das Land eine schlechte Ausgangssituation hatte: Die Staatsverschuldung lag schon vor Corona bei 134 Prozent der Wirtschaftsleistung und Italien hat es bisher nicht geschafft, sein Bruttoinlandsprodukt zurück auf das Niveau von vor der Krise 2008 zu bringen.
Für die Zukunft wird daher essenziell sein, wie gut Italien die Gelder nutzen wird, die es aus dem Next-Generation-EU-Plan der EU-Kommission erhalten wird. Aus Zuschüssen und Krediten soll mit 209 Mrd. Euro der größte Anteil an Italien gehen.
Bis das Geld fließt, müssen die Unternehmer durchhalten. Restaurantbesitzerin Oltean hat sich darauf verlegt, auf Wunder zu hoffen. Am Ende des Gesprächs gesteht sie, sich manchmal zu wünschen, dass das Virus einfach verschwinde: „So wie es damals von einem Tag auf den anderen aufgetaucht ist, könnte es doch auch einfach wieder verschwinden und alles wäre wieder so wie zuvor.“Schön wär’s.