»Die stillen Kinder werden deutlich mehr«
Wir erleben gerade heftige Zeiten: Pandemie, Lockdown und ein Terrorangriff. Was macht das mit uns?
Christa Paulinz: Die Erschöpfung, die die zweite Welle der Pandemie bringt, in Kombination mit dem Terroranschlag, verstärkt die seelische Müdigkeit in einem vielfachen Maß, nicht nur additiv, es multipliziert sich. Die Verunsicherung, die Angst, die Zukunftsängste intensivieren sich auf eine Weise, die für viele Menschen eine hohe Belastung darstellt – vor dem Hintergrund der Müdigkeit aus der ersten Welle der Pandemie.
Der Terror rückt also nicht die Pandemie in den Hintergrund?
Das mag vielleicht so erscheinen, auch in der medialen Darstellung und den Gesprächen untereinander, aber bei der seelischen Belastung würde ich von einer Multiplikation ausgehen.
Wie wirkt sich die seelische Müdigkeit aus? Wenn Teile eines stabilisierenden sozialen Systems wegbrechen, macht das insgesamt Angst, vor naher, aber auch vor weiter Zukunft. Werde ich die Wohnung bezahlen können, was werden die Kinder für eine Zukunft haben? Das sind viele Fragen, die auftauchen. Ängste, die vorher schon bestanden haben, zeigen sich deutlicher. Bei Kindern und Jugendlichen kommt noch dazu, dass Entwicklungsaufgaben anstehen, bei Adoleszenten etwa die der Autonomie, die dann auch nicht adäquat zu bewältigen sind, weil die Pandemie in Zeiten des Lockdown erfordert, dass man zu Hause bleibt.
Wie erleben Kinder und Jugendliche diese Kombination aus Pandemie und Terror? Auch in Niederösterreich, wo ich lebe und arbeite, sind am Dienstag doch einige Kinder zu Hause geblieben. Und ich habe wahrgenommen, dass die Kinder, die in den Schulen waren, Bilder aus den Medien in Filmbilder verwandelt haben. Das ist eine Art von Abwehr, ein Versuch, etwas Unfassbares fassbar zu machen, indem man einen Film daraus macht. Andere wurden von der Angst förmlich überwältigt, weinten oder zogen sich emotional zurück. Das ist etwas, was wir seit Beginn der Pandemie verstärkt wahrnehmen, dass die sogenannten stillen Kinder, die durchs emotionale Verschwinden gekennzeichnet sind, deutlich mehr werden. Und dann gibt es auch noch die Kinder, die mit scheinbarer Aggressivität reagieren. Die es also so verdrängen, dass sie sich in irgendwelche Provokationen begeben.
Geht man mit diesen Kindern, die so unterschiedlich reagieren, unterschiedlich um? Das Wichtigste ist wohl, dass Kinder Erklärungen von Menschen kriegen, die ihnen vertraut sind. Menschen aus der Familie, aber auch Lehrer. Man sollte ihnen Antworten geben, aber nicht mehr, als von den Kindern als Fragen kommen. Und die kindlichen Fragen tauchen in Portionen auf, wahrscheinlich an Punkten der Entspannung, vielleicht im Zeichenunterrricht oder in Begegnungen, wo Stille herrscht.
Man hört oft vom altersgerechten Erklären. Was ist für welches Alter gerecht? Altersgerecht bedeutet, dass ich gut hinhöre, wie das Kind seine Frage stellt, und auf dieser Ebene antworte. Das heißt auch, dass ich versuche, die Wortwahl des Kindes und das Szenario aufzunehmen, nach dem das Kind fragt, und dem ein Narrativ zu geben, dass ich quasi mit meiner Antwort dem Kind die Möglichkeit gebe, zu schauen, ob eine Beruhigung entstehen kann.
Viele Kinder haben recht schnell über soziale Medien Videos gesehen, die sie nicht sehen sollten, und waren dann verstört. Wie kann man das wieder gutmachen?
Das ist auffangbar in dieser dosierten Form des Zuhörens. Die Kinder werden in den nächsten Wochen, Monaten, vielleicht auch Jahren die Fülle dieser Eindrücke verarbeiten müssen. Auch was das Pandemiegeschehen betrifft. Daher wünsche ich mir neben den familiären, schulischen und sonstigen Gemeinsamkeiten, die ja jetzt nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen können, die Möglichkeiten einer Psychotherapie auf Krankenkasse. Ich gehe davon aus, so wie alle meine Kolleginnen und mittlerweile auch etliche Studien, dass sich die seelische Verdauung über Monate und Jahre ziehen wird. Vieles wird erst zeitverzögert auftauchen, in Form von Gereiztheit, Traurigkeit, depressivem Geschehen. Dahinter können sich noch offene Fragen verstecken. Und nicht immer ist das, was wir uns als Erwachsene vorstellen, das, was das Kind erschreckt hat.
Wie geht man mit stillen Kindern um, die gar nicht darüber sprechen?
Die stillen Kinder formulieren ihre Fragen auf stille Weise. Man merkt es daran, dass sich ein Kind zurückzieht, wenig spricht, Freundschaften und Beziehungen reduziert, ängstlicher wird im Umgang mit täglichen Herausforderungen. Im besten Fall gibt es Erwachsene, die das wahrnehmen und das Kind unterstützen. Dazu braucht es aber Erwachsene, die Erfahrungen damit haben, dass man auch sehr schwere Dinge verarbeiten kann, wenn man darüber redet. Das ist in der Pandemie schwierig, weil auch viele Erwachsene nicht so sehr daran glauben, dass Sprechen oder Sich-Austauschen tatsächlich hilft. Es gibt auch viele Erwachsene, die in den Rückzug gehen.
Wie kann man das als Erwachsener verarbeiten?
Es ist wichtig im Gespräch zu bleiben, nach Möglichkeit mit Menschen, mit denen man schon vor dem Ereignis verbunden war, wo Vertrauen herrscht. In den vergangenen Wochen hat sich gezeigt, dass viele Menschen intensiv soziale und andere Medien konsumieren. Davon möchte ich dringend abraten. Die Intensität von Bildern ist nicht zu unterschätzen. Es gibt auch Einrichtungen, die Entlastungsgespräche anbieten, wie die Telefonseelsorge. Auch das kann sehr hilfreich sein, um den ersten großen Druck ein bisschen loswerden zu können. Ich glaube wir unterschätzen, wie viele Menschen, auch durch den sozialen Druck, der entstanden ist, an enormer Einsamkeit leiden.
Wie haben Sie die Menschen in den vergangenen Tagen erlebt?
Die Reaktionen, die ich erlebt habe, waren zutiefst erschrocken und traurig. Der schwierigste Punkt im Gesamtgesellschaftlichen ist der, dass der Terroranschlag und die Pandemie massiv an unsere Hilflosigkeiten anklopfen. Wenn wir Hilflosigkeit in uns erleben, ist es nicht einfach, sich dem zu stellen. Das führt nicht selten zu einer überschießenden Reaktion im Sinne von mehr Kontrolle zurückzugewinnen. Diese Sehnsüchte tauchen dann sehr massiv auf und führen zu Reaktionen, die wir uns rational betrachtet weder wünschen noch leisten wollen. Es ist wichtig, von der massiven Verunsicherung und Hilflosigkeit in ein kontrolliertes Erleben zurückzukehren. Dieser Prozess dauert unterschiedlich lang und hat unterschiedliche Schwerpunkte.
Christa Paulinz
ist auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Beratungslehrerin. Sie lebt und arbeitet in Niederösterreich.
Wie kommt man aus der Trauer raus? Gibt es Muster – wie dass nach Trauer Wut folgt? Sie denken an die Verarbeitungsmuster. Die gibt es wahrscheinlich, dass nach dem Erschrecken, nach der Trauer so etwas wie Sich-Wehren kommt, das sich auch in Wut ausdrücken kann oder auch in Aktivitäten, wie „Da gehört jetzt etwas gemacht“, also Pläne schmieden, wo wieder ein Stückchen Energie zurückkommt. Auch, und das wird es die nächsten Tagen brauchen, ein zunehmendes Bewusstsein, dass das tatsächlich hier passiert ist und nicht in Frankreich oder irgendwo. Es findet ein Integrationsprozess statt, das zunehmende Begreifen: „Es ist meine Welt.“Es ist ja tatsächlich eine massive Verletzung passiert, aller unserer Erwartungen, Sicherheitsvorstellungen.
Psychotherapeutin Christa Paulinz geht davon aus, dass uns die Verarbeitung der Pandemie, in Kombination mit Terror, noch lang beschäftigen wird.
Das ist eine nicht sehr probate Form zu sagen, das hat mit mir nichts zu tun, sich abzugrenzen, um sich zu schützen. Das ist gar nicht gut, wenn man zwischen Wienern und Nichtwienern unterscheidet oder kulturelle und religiöse Trennungslinien zieht. Aber wir sind eine Gesellschaft, daher funktioniert die Trennungslinie nicht.
Das heißt, um ein solches Ereignis zu verarbeiten, ist es wichtig, darüber zu reden und zu überlegen, was macht das mit mir?
Ja. Und anzuerkennen, dass es mit mir etwas anderes macht als mit dem anderen. Der Vorschlag wäre: Lass uns darüber reden, lass es uns begreifen und verstehen. Es gibt unterschiedliche Varianten der Verarbeitung, aber wenn man das Fundament als gemeinsames erhält, hat man sich ein schönes Stück Sicherheit zurückerobert.