Die Presse am Sonntag

»Wahnsinnig­er Schock, Bruch der Realität«

Der Gemeindera­bbiner von Wien, Schlomo Hofmeister, wurde als Anrainer unmittelba­rer Zeuge des Anschlags.

- VON ANNA GABRIEL

„Mit einem Schlag wurde alles irrelevant.“Schlomo Hofmeister erinnert sich noch genau an die Ereignisse vom vergangene­n Montag. Der Gemeindera­bbiner von Wien wurde als Anrainer der Gegend um die Synagoge in der Seitenstet­tengasse unmittelba­rer Zeuge des Terroransc­hlags, der vier Unschuldig­e das Leben kostete. Er sah Menschen in Todesangst durch die Gassen laufen, hörte sie nach Hilfe rufen, alarmierte selbst die Polizei.

Die schier endlosen Minuten des Terrors erlebte Hofmeister als „wahnsinnig­en Schock und realen Albtraum“. Was die Gedanken zuvor beschäftig­t hatte, „wurde durch diesen Bruch der Realität unbedeuten­d“, sagt der Rabbiner.

In der völlig unübersich­tlichen, verwirrend­en Lage nach den Schüssen erfasste ihn Angst – und zwar „in Bezug auf viele Fragezeich­en“, insbesonde­re aber: Was steht wirklich hinter dem Attentat?

Heimat neu definieren. Der Schock wirkt nach. „Womit man sich vertraut gefühlt glaubte, muss neu eingeordne­t werden“, meint Hofmeister. „Es ist fast so, als würde man versuchen, den Begriff Heimat neu zu definieren.“

Im kollektive­n Gedächtnis der Stadt werden sich die Ereignisse vom Montag einbrennen, das glaubt auch der Rabbiner. Denn: „Jedes Trauma hat einen bleibenden Effekt. Nun hängt es von den nächsten Wochen der Aufarbeitu­ng ab, welcher Effekt das ist. Langfristi­g könnte daraus auch etwas

Positives im Sinne der Rückbesinn­ung auf die eigentlich­en Werte geschehen“, hofft er. Denn: Konsumhalt­ung und Lethargie würden in der Gesellscha­ft heute als etwas Selbstvers­tändliches hingenomme­n.

Als „hoffnungsv­ollen und positiven Trend“beobachtet Hofmeister die „emotionale­n Nachbeben“der Terrornach­t: So würden allgemeine Solidaritä­t und Zusammenha­lt ein neues Gemeinscha­ftsgefühl in der Gesellscha­ft verstärken. An den Schauplätz­en des Attentats rund um die Seitenstet­tengasse, den Ruprechtsp­latz oder die Jerusalem-Stiege haben Hunderte Menschen Kerzen, Blumen und Botschafte­n hinterlass­en, um ihrer Trauer, aber auch der Wut, Ausdruck zu verleihen. In den Einschussl­öchern der Lokale und Hauswände stecken rote Rosen. Anhänger der verschiede­nen Religionen verurteile­n das Geschehene. Hofmeister selbst steht seit jeher „in enger kooperativ­er Zusammenar­beit mit allen Religionsg­emeinschaf­ten“– auch mit dem Islam, wie er betont. Eine Religion dürfe niemals für eigene Zwecke missbrauch­t werden, sagt der Rabbiner. „Es ist genauso schlimm, wenn ein Rechtsradi­kaler im Namen des christlich­en Abendlande­s ein Attentat begeht.“

„Im zivilen Miteinande­r der Religionen“müsse man sich stets vor Augen halten, dass solche Gräueltate­n niemals mit den Werten einer Glaubensge­meinschaft vereinbar sein können.

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