Wenn das Leben mit Gewalt zum Alltag wird
In Frankreich müssen schon Tausende Menschen mit persönlichen Folgen des islamistischen Terrors umgehen, etwa als Angehörige Getöteter oder selbst Verletzte.
„Hätten sie unsere Religion wirklich gekannt, dann hätten sie gewusst, dass geschrieben steht: ,Wer einen unschuldigen Menschen tötet, der tötet die ganze Menschheit.‘“
Mughal gab später ihren Job in der City auf und arbeitet bis heute für eine Wohltätigkeitsorganisation, die sich für Opfer von Gewalt gegen Frauen und ethnische Minderheiten einsetzt. Als im Tunnel die Bombe explodierte, habe sie sich auf den Tod vorbereitet und gedacht: „Ich habe die Welt nicht gesehen und keine Kinder gehabt.“Als Prinz Charles der unermüdlichen Aktivistin gegen Rassismus 2015 den Order of the British Empire verlieh, waren ihr Mann und ihre beiden Kinder im Buckingham Palace dabei. te, auf dem Brüsseler Zentralbahnhof eine Kofferbombe zu zünden. Im August 2017 griff im Zentrum Brüssels ein Sympathisant des Islamischen Staates eine Patrouille mit einem Messer an, verletzte einen Soldaten und wurde niedergeschossen.
Wie lang die Operation „Vigilant Guardian“noch dauert, ist offen. Die neue Regierung, die erst seit wenigen Wochen im Amt ist, hat sich dazu noch nicht geäußert. Dauerhaft verändert ist hingegen der Zugang zum Flughafen Zaventem. Direkt mit dem Auto zur Abflughalle vorfahren darf man nicht mehr; nur Taxis dürfen sich der Ankunftshalle nähern.
Verschärft haben sich auch die Sicherheitsbedingungen am Eingang zu den Gebäuden der EU-Institutionen. Wo man früher nur seinen Ausweis vorzeigen beziehungsweise seine Kontaktperson für das Treffen nennen musste, muss man jetzt in Kommission, Europaparlament und Ratsgebäude wie bei der Sicherheitskontrolle auf dem Flughafen Gürtel und Metallgegenstände ablegen und einen Scanner durchschreiten. Allerdings hat das nur am Rande mit den Anschlägen von 2016 zu tun. Nach dem Sturz der Kommission unter Präsident Jacques Santer wegen einer Korruptionsaffäre im Jahr 1999 hatte die Kommission bereits begonnen, den Zugang für Journalisten zu beschränken. Die Sicherheitsmaßnahmen, welche die Brüsseler Behörden nach den Anschlägen
Mein Leben ist wie in kleine Stücke explodiert. Um dem standzuhalten, musste ich handeln. Für meine Tochter Tess, die beim Attentat ihre Mutter verloren hatte, für mein Team und für mich selbst“, erinnert sich der Gastwirt Gre´gory Reibenberg.
Er hat sich darum mit dem Mut seiner Angst und Trauer in die Arbeit gestürzt. Er saß am 13. November 2015 mit seiner Freundin und seinem Geschäftspartner Baptiste Pe´an auf der Terrasse seines Pariser Restaurants La Belle E´ quipe im elften Arrondissement, als ein Terrorist auf die ahnungslosen Leute feuerte und bevor wenig später zwei andere Fanatiker im Konzertsaal Le Bataclan, wo die Gruppe Eagles of Death Metal auftrat, ein Blutbad anrichteten. Gre´gory und Baptiste überlebten. Für sie bleibt das Erlebnis so frisch, als wäre es gestern gewesen.
„Ich fühle mich heute mehr wie ein Überlebender denn ein Opfer“, sagt Baptiste, der nach Konsultationen mit einem Psychologen so wie sein Freund Gre´gory sein Heil in hektischer Aktivität sucht. Vergessen kann er nicht, verdrängen vielleicht. Etwas aber ist ihm im Hals stecken geblieben: „Ich bin noch immer wütend auf die Leute, die damals die Verletzten gefilmt haben, statt zu helfen.“
Für immer ein Tatort. Gre´gory gesteht, dass er anfangs oft als Zeuge der Ereignisse in Medien aufgetreten ist. Seither aber will er Distanz schaffen. Er hat dazu eine Art Tagebuch geschrieben, das schlicht den Titel seines Lokals trägt, das wie die anderen attackierten Cafe´-Terrassen und das Bataclan für immer den Namen eines Tatorts trägt.
Auch der Bankier Arthur De´nouveaux war damals im Bataclan. Er hat überlebt, fühlt sich aber „in der Seele verletzt“. Zusammen mit anderen hat er die Hilfsorganisation Life for Paris gegründet, die heute 650 Mitglieder im Alltagsleben verordneten, wurden demgegenüber wieder abgebaut: Eltern dürfen seit vorigem Jahr ihre Kinder wieder ins Schulgebäude bringen, statt sie am Schultor abzugeben.
Vergessen. Die Bedrohungslage wird seit dem Niedergang des Islamischen Staates im Zweistromland wesentlich entspannter bewertet. Zudem haben die Sicherheitsbehörden ihre Überwachung islamistischer Gefährder verbessert: Erst vorige Woche nahmen sie zwei Schüler in der Kleinstadt Eupen fest, weil diese Anschlagspläne gewälzt hatten. Personal und Ressourcen werden nun wieder anderen Verbrechensformen gewidmet, allen voran dem Rauschgifthandel, für den der Hafen Antwerpen Europas wichtigster Brennpunkt ist. Ebenfalls vorige Woche glückte der Bundespolizei ein enormer Fund: Sie beschlagnahmte 14 Tonnen Kokain aus Südamerika im Wert von rund einer halben Milliarde Euro.
Und so gehen die Stadt und das Land wieder zur üblichen Ordnung beziehungsweise Unordnung über. Voriges Jahr beschwerte sich ein Brüsseler Lokalpolitiker, dass die Gedenkstätte im nahen Foreˆt des Soignes von Brennnesseln überwuchert verwahrlose. Ein Betonkreis, umringt von 32 Bäumen für die 32 Opfer: Beim Lokalaugenschein der „Presse am Sonntag“im heurigen Sommer rankt noch immer Gestrüpp um das Mahnmal. Wer seinen etwas abseits gelegenen Ort nicht kennt, kommt nie hierher. „Es ist jetzt schon vier Jahre her“, sagte Karen Northshield anlässlich des heurigen Jahrestages zum Fernsehsender RTBF. „Einerseits muss man vergessen, um weiterzukommen. Andererseits darf man aber nicht vergessen.“ zählt und deren Zweckbestimmung es ist, Terroropfern psychologische Unterstützung und Hilfe bei Gesuchen um Entschädigung durch den Staatsfonds für Terroropfer zu gewähren. Wie Gre´gory und Baptiste spricht er davon, dass ihm Hyperaktivität hilft. Neben seiner beruflichen Tätigkeit hat er mit dem Geld, das er vom Entschädigungsfonds erhalten hat, in einen Musikverlag investiert, der nach jenem Notausgang, der sein Fluchtweg war, Left Front Door Records heißt.
Dauerhaft verändert hat sich nur der Zugang zum Flughafen Zaventem.
Man meidet Ansammlungen, sieht sich nach verdächtigen Personen und Objekten um.
Der bekannte französische Psychiater Boris Cyrulnik hat dazu das Konzept der Resilienz als Bewältigungsstrategie entwickelt, das oft im Zusammenhang mit den Überlebenden der Attentate zitiert wird. „Der Begriff ,Opfer‘ ist zu juristisch und verfestigend. Diese Menschen sind keine Kranken, es geht nicht um Heilung. Resilienz ermöglicht es ihnen, nicht von der Vergangenheit beherrscht zu bleiben, sondern eine neue Form der Existenz zu wählen, die oft intensiver sein kann, auch wenn Momente des Leidens weiterbestehen“, entwickelt Cyrulnik seine Theorie.
Ein Psychologe der Hilfsorganisation Association franc¸aise des victimes du terrorisme, Dominique Szepielak, äußert Bewunderung für die Menschen, die gestärkt aus ihrer schlimmsten Lebenserfahrung hervorgehen: „Sie haben den Hass an Körper und Seele gespürt. Den Weg der Rache einzuschlagen wäre einfach. Doch die überwiegende Mehrheit besinnt sich in einer Analyse auf die eigenen Werte und lehnt den Teufelskreis von Gewalt und Leiden ab.“In diesem Sinne hat auch die Gesellschaft bisher eher mit Solidarität auf Basis der Grundwerte der Republik als mit verschärften und irrationalen Ressentiments reagiert.
Kein Platz mehr für Naivität. Natürlich hat die Eskalation der Angriffe durch Islamisten in Frankreich zu verstärkter Überwachung von Sympathisanten des Jihad geführt. Dazu wurden Ausnahmebestimmungen des 2015 dekretierten Notstands in die Gesetzgebung übernommen. Nach den jüngsten Anschlägen in Paris, Conflans-Sainte-Honorine und Nizza möchte der Innenminister rund 50 Vereine verbieten und Moscheen, in denen Hassprediger auftreten, schließen. Rund 230 bei den Behörden wegen Kontakten zu Islamisten registrierte Ausländer sollen zudem abgeschoben werden. Die Republik will nicht den Eindruck erwecken, auf Bedrohung mit Naivität zu reagieren. Dabei besteht freilich immer die Gefahr einer Überreaktion, bei der nicht nur jene Grundwerte infrage gestellt werden, die gegen den Obskurantismus verteidigt werden, sondern auch das Risiko besteht, sich mit unverstandener Repression neue Feinde zu schaffen.
Der Schock der Anschläge, die schlagartig in den Alltag einbrechen, hat vor allem in Paris im Verhalten oder sogar Tagesablauf der Bevölkerung Spuren hinterlassen. Viele meiden größere Ansammlungen, schauen sich beim Besteigen öffentlicher Verkehrsmittel um oder halten nach verdächtigen Objekten Ausschau. Der Angriff auf „Charlie Hebdo“und die Attentatsserie vor fünf Jahren hat aber auch den Überraschungseffekt vermindert. Wenn täglich Polizisten und Soldaten patrouillieren, wird den Leuten bewusst, dass stets mit Terror gerechnet werden muss. Damit müssen nicht nur die Opfer, sondern letztlich die ganze Bevölkerung leben lernen.