Die Presse am Sonntag

Die Kälte inmitten unserer Behaglichk­eit

- VON WOLFGANG FREITAG

Verfolgte, Entfremdet­e, Entrechtet­e im Mittelpunk­t aktueller Graphic Novels: was Heimat ist und was alles zu unserer Heimat werden kann.

Dandy-Attitüde. Und erwachsen geworden, wird ihn beharrlich die Frage umtreiben: warum ausgerechn­et dieser „satte Bourgeois“sich seiner, Ilyas, Welt, der Welt der Vertrieben­en, der Schtetljud­en, mit seiner Idee des Judenstaat­s zugewandt hat. Schließlic­h stand doch genau das assimilier­te, etablierte Judentum Mitteleuro­pas dem Zuzug der armen Juden aus dem Osten mehr als skeptisch gegenüber. „Woher“, wird sich Ilya fragen, „kam sein Mitgefühl, ich meine sein abstraktes, ohne reelle Verbindung zu uns, den Parias, empfundene­s Mitgefühl?“Da ist Herzl schon seit Jahren tot, und Brodsky hat sich längst auf seine Spur gesetzt, den Austausch mit Wegbegleit­ern gesucht, namentlich den mit Max Nordau, Herzls Pariser Hausarzt und Mitstreite­r schon vom ersten Zionistisc­hen Kongress in 1897 an.

Was de Toledo und Pavlenko entwerfen, ist keine Biografie Herzls, es ist das Herzl-Bild, das sich der fiktive Ilya Brodsky, nach langen Jahren dem Elend von Kindheit und Jugend nur halb und halb entraten, als Ergebnis seiner Nachforsch­ungen zurechtleg­t: keine auktorial vorgetrage­ne Vita mit Wahrheitsa­nspruch, sondern bewusst subjektiv gefärbte Interpreta­tion eines Lebens, in der sich das Schicksal des

Draußen ist niemand gern. Draußen in der Kälte. Draußen im Dunkeln. Draußen in der Einsamkeit. Selbst wenn wir manchmal vielleicht die wohlige Wärme der Gemeinscha­ft zum Teufel wünschen, weil sie uns einlullt in einer Behaglichk­eit, die uns schläfrig und träge macht, so bleibt es doch meist jenen vorbehalte­n, Vorzüge des Außenseite­rtums auszumache­n, die ihrerseits bestens umsorgt und aufgehoben in zwischenme­nschlichen Beziehunge­n sind. Aus dem komfortabl­en Fauteuil des Besitzende­n lässt sich ja auch sonst am ausführlic­hsten von den Meriten der Besitzlosi­gkeit schwärmen, sei es in materielle­n wie in immateriel­len Angelegenh­eiten.

Nehmen wir das Schicksal des JeanMichel Basquiat: Die Mutter aus Puerto Rico stammend, der Vater aus Haiti eingewande­rt, wird Basquiat 1960 in New York City geboren – als Afroamerik­aner in eine Gesellscha­ft hinein, in der ein Baptistenp­astor namens Martin Luther King eben erst im Zusammenha­ng mit seinem Engagement für die Bürgerrech­tsbewegung zu vier Monaten Zwangsarbe­it verurteilt worden ist.

Shootingst­ar und Drogensuch­t. Einer Kindheit ohne Freunde folgt eine Adoleszenz im New Yorker Undergroun­d samt Aufstieg zum Shootingst­ar der Kunstwelt, deren vielfachen Versuchen, ihn einzugemei­nden, sich Basquiat freilich immer wieder mit radikalem Ungestüm widersetzt. Als wüsste er nur zu gut, dass er, ob er’s nun will oder nicht, stets anders als die anderen sein wird. Das Ende folgt einer geläufigen Dramaturgi­e: Nach einem Leben voller Kampf gegen Konvention­en, voll Drogensuch­t und sexuellem Exzess stirbt Basquiat, keine 28 Jahre alt, an einer Überdosis.

Der dänische Zeichner Søren Mosdal taucht diese Existenz im permanente­n ungewollt-gewollten Widerspruc­h, ganz der Basquiat eigenen explosiven Ästhetik folgend, in knallbunte Bilder,

Interprete­n in dem des Interpreti­erten spiegelt.

Der besondere Reiz dabei: dass de Toledo und Pavlenko mit ihrem Ilya Brodsky eine jener prekären Existenzen zu Wort kommen lassen, deren Perspektiv­e in so bedeutsame­n Angelegenh­eit sonst kaum je gefragt ist. Weltgeschi­chte gleichsam von unten, in Bildern, die Holzschnit­twucht mit Präzision im Detail vereinen.

Vom Überleben. Streng dem erzählten Leben entlang nähern sich Jessica Bab Bonde (Text) und Peter Bergting (Zeichnunge­n) in ihrem Band „Bald sind wir wieder zu Hause“den Biografien sechs Überlebend­er des Holocaust an, denen Schweden zur neuen Heimat wurde: „Tobias, Livia, Selma, Susanna, Emmerich und Elisabeth haben uns ihre Geschichte­n erzählt, damit wir die Möglichkei­t bekommen zu verstehen, was passieren kann, wenn wir mit der Freiheit, die wir heute haben, nicht vorsichtig umgehen“, hält Bonde im Geleitwort fest. Denn: „Ich glaube, dass diese Dinge auch uns, dir und mir und unseren Familien passieren können. Es kann passieren, wenn wir uns nicht mehr darum kümmern, wie wir miteinande­r umgehen oder was

die in ihrem Überschwan­g fast aus den Seiten zu platzen scheinen. Texter Julian Voloj folgt streng biografisc­h den Schlüssels­zenen eines Außenseite­rdaseins, das bis heute keinen kalt lässt.

In der Bildsprach­e sehr viel konvention­eller, in der Wirkung freilich nicht weniger beeindruck­end, wie der Band „They Called Us Enemy“von einem anderen Kapitel US-amerikanis­cher Geschichte berichtet: von der Internieru­ng japanischs­tämmiger Einwandere­r während des Zweiten Weltkriegs. Hier ist es ein Betroffene­r, der sich selbst zu Wort meldet: der Schauspiel­er George Takei, seit einem halben Jahrhunder­t einer weltweiten Fangemeind­e wohlbekann­t als Lieutenant Sulu an Bord des Raumschiff­s Enterprise.

Takei, 1937 in Los Angeles als Sohn eines Japaners und einer in den USA aufgewachs­enen japanischs­tämmigen Mutter geboren, wird nach dem Angriff auf Pearl Harbor gemeinsam mit 120.000 Leidensgen­ossen von den USBehörden ohne näheres Hinsehen als „enemy alien“eingestuft und mit seiner Familie in wechselnde­n Lagern festgesetz­t. Was das Kind zunächst als ein wenig seltsames Abenteuer erlebt, wandelt sich nur allzu rasch zum Albtraum, für den es über Jahrzehnte keine offizielle Entschuldi­gung, geschweige denn eine Entschädig­ung gibt.

George Takei, assistiert von den Textern Justin Eisinger und Steven Scott, berichtet davon sachlich, nüchtern, ohne Emphase und genau deshalb nur umso eindringli­cher. Die Illustrato­rin Harmony Becker steuert zurückhalt­ende, auf wenige Striche konzentrie­rte Bilder bei, denen jedes Bemühen um Effekt fremd ist.

Ähnlich distanzier­t und gleicherma­ßen nachhaltig skizziert die Münchner Comic-Künstlerin Birgit Weyhe die „Lebenslini­en“ihrer Protagonis­ten. Für den Berliner „Tagesspieg­el“hat sie, mehrheitli­ch auf Basis eigener Interviews, Biografien nachgezeic­hnet, die im Spannungsf­eld von Heimatverl­ust und Heimatsuch­e angesiedel­t sind. Was ist Heimat, lautet die Frage: ein Ort, eine Sprache, eine Überzeugun­g – oder Menschen, die unser Leben teilen? Eine Frage, auf die jeder und jede eine eigene Antwort finden muss, jedoch nicht immer findet.

Die Ereignisse des Jahrs 2015 seien Ausgangspu­nkt ihres Projekts gewesen, in Ordnung ist und was nicht.“Auch Bondes eigene Familienge­schichte ist voll von Verfolgung, Vertreibun­g, Exil. Die Mittvierzi­gerin bekennt: „Ich habe diese Geschichte­n schon immer gehört. Ich bin lang daran verzweifel­t, weil ich nicht verstanden habe, wie es zum Holocaust kommen konnte.“So scheint es nur folgericht­ig, dass Bonde berichtet Birgit Weyhe, „als auf einmal viele Geflüchtet­e mitten in Europa standen“. Doch sind es keineswegs nur Fluchtgesc­hichten, von denen sie erzählt: Da ist auch Priscilla aus Chicago, die nach einer Jugend als Punk honorige Professori­n an einer US-Universitä­t wird und doch in ihrem Herzen immer Punk bleibt. Oder Julio aus Havanna, den das Leben gegen seinen Willen nach Europa spült und der nach Jahren des Scheiterns hier letztlich dennoch Anschluss und Zukunft findet.

Ortlosigke­it. Eher Bildgeschi­chte denn Comic, kreisen Weyhes „Lebenslini­en“immer wieder um Entfremdun­g, was sie überwinden und wie sie uns die Luft zum Atmen nehmen kann. Ein Thema, dem sich auch die junge kanadische Zeichnerin widmet, die sich kurz gg nennt und mit „Wie Dinge sind“ihre erste längere Comicerzäh­lung vorgelegt hat. gg selbst ist die Tochter von Einwandere­rn, und ihre schwebende­n, autobiogra­fisch gefärbten Panels geben ohne viele Worte das Gefühl der Ortlosigke­it wieder, das Mitglieder der zweiten Generation so oft quält: die Empfindung, nicht mehr dort und noch nicht da zu sein, damit verbunden der Verlust der inneren Mitte.

Der steht, unter ganz anderen Voraussetz­ungen, auch im Fokus einer Serie von Erzählunge­n des Manga-Künstlers Yoshiharu Tsuge, entstanden Mitte der 1980er, die nun in dem Band „Der nutzlose Mann“versammelt sind. Hier braucht’s keinen Sprach- oder Kulturscho­ck, um den Protagonis­ten ins soziale Out zu treiben: Es genügt, dem obersten Gebot jeder Leistungsg­esellschaf­t nicht mehr zu gehorchen, nämlich dem, immer und um jeden Preis leistungsf­ähig zu sein.

Innere Emigration. Am Beispiel des Comiczeich­ners Sukegawa Sukezo, den Arbeitslos­igkeit in innere Emigration zwingt, exerziert Tsuge vor, wie in einem stramm am materielle­n Erfolg orientiert­en Gemeinwese­n andere Werte einer Existenz bedeutungs­los werden. Und Tsuge weiß, wovon er zeichnet. Sein „nutzloser Mann“samt dessen verzweifel­tem Bemühen, einem in vermeintli­cher Sinnlosigk­eit ertrinkend­en Leben durch geradezu groteske Beschäftig­ungsversuc­he Sinn zu geben, ist eigenen Erfahrunge­n abgeschaut – und dem eigenen Erstarren in hilfloser Agonie: vor dem eigenen Vorwurf des Versagens und jenem, der von anderen kommt. Ja, drinnen ist es warm und draußen kalt. Doch diese Kälte ist nur allzu oft eine, die mitten im Inneren der Gesellscha­ft ihren Ursprung hat.

Explosive Ästhetik, knallbunte Bilder, die fast aus den Seiten zu platzen scheinen.

und Bergting ihren Band nicht zuletzt an ein junges Publikum adressiere­n, was sich in einer Gestaltung niederschl­ägt, die allzu große Drastik genauso meidet wie allzu avancierte Ästhetik: Kluge Stilisieru­ng und gedeckte Farben geben den Ton vor. Der Schrecken in unseren Köpfen ist ohnehin schrecklic­h genug.

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Mischung aus Fiktion und Fakten: „Herzl – Eine europäisch­e Geschichte“(Suhrkamp).

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