Die Kälte inmitten unserer Behaglichkeit
Verfolgte, Entfremdete, Entrechtete im Mittelpunkt aktueller Graphic Novels: was Heimat ist und was alles zu unserer Heimat werden kann.
Dandy-Attitüde. Und erwachsen geworden, wird ihn beharrlich die Frage umtreiben: warum ausgerechnet dieser „satte Bourgeois“sich seiner, Ilyas, Welt, der Welt der Vertriebenen, der Schtetljuden, mit seiner Idee des Judenstaats zugewandt hat. Schließlich stand doch genau das assimilierte, etablierte Judentum Mitteleuropas dem Zuzug der armen Juden aus dem Osten mehr als skeptisch gegenüber. „Woher“, wird sich Ilya fragen, „kam sein Mitgefühl, ich meine sein abstraktes, ohne reelle Verbindung zu uns, den Parias, empfundenes Mitgefühl?“Da ist Herzl schon seit Jahren tot, und Brodsky hat sich längst auf seine Spur gesetzt, den Austausch mit Wegbegleitern gesucht, namentlich den mit Max Nordau, Herzls Pariser Hausarzt und Mitstreiter schon vom ersten Zionistischen Kongress in 1897 an.
Was de Toledo und Pavlenko entwerfen, ist keine Biografie Herzls, es ist das Herzl-Bild, das sich der fiktive Ilya Brodsky, nach langen Jahren dem Elend von Kindheit und Jugend nur halb und halb entraten, als Ergebnis seiner Nachforschungen zurechtlegt: keine auktorial vorgetragene Vita mit Wahrheitsanspruch, sondern bewusst subjektiv gefärbte Interpretation eines Lebens, in der sich das Schicksal des
Draußen ist niemand gern. Draußen in der Kälte. Draußen im Dunkeln. Draußen in der Einsamkeit. Selbst wenn wir manchmal vielleicht die wohlige Wärme der Gemeinschaft zum Teufel wünschen, weil sie uns einlullt in einer Behaglichkeit, die uns schläfrig und träge macht, so bleibt es doch meist jenen vorbehalten, Vorzüge des Außenseitertums auszumachen, die ihrerseits bestens umsorgt und aufgehoben in zwischenmenschlichen Beziehungen sind. Aus dem komfortablen Fauteuil des Besitzenden lässt sich ja auch sonst am ausführlichsten von den Meriten der Besitzlosigkeit schwärmen, sei es in materiellen wie in immateriellen Angelegenheiten.
Nehmen wir das Schicksal des JeanMichel Basquiat: Die Mutter aus Puerto Rico stammend, der Vater aus Haiti eingewandert, wird Basquiat 1960 in New York City geboren – als Afroamerikaner in eine Gesellschaft hinein, in der ein Baptistenpastor namens Martin Luther King eben erst im Zusammenhang mit seinem Engagement für die Bürgerrechtsbewegung zu vier Monaten Zwangsarbeit verurteilt worden ist.
Shootingstar und Drogensucht. Einer Kindheit ohne Freunde folgt eine Adoleszenz im New Yorker Underground samt Aufstieg zum Shootingstar der Kunstwelt, deren vielfachen Versuchen, ihn einzugemeinden, sich Basquiat freilich immer wieder mit radikalem Ungestüm widersetzt. Als wüsste er nur zu gut, dass er, ob er’s nun will oder nicht, stets anders als die anderen sein wird. Das Ende folgt einer geläufigen Dramaturgie: Nach einem Leben voller Kampf gegen Konventionen, voll Drogensucht und sexuellem Exzess stirbt Basquiat, keine 28 Jahre alt, an einer Überdosis.
Der dänische Zeichner Søren Mosdal taucht diese Existenz im permanenten ungewollt-gewollten Widerspruch, ganz der Basquiat eigenen explosiven Ästhetik folgend, in knallbunte Bilder,
Interpreten in dem des Interpretierten spiegelt.
Der besondere Reiz dabei: dass de Toledo und Pavlenko mit ihrem Ilya Brodsky eine jener prekären Existenzen zu Wort kommen lassen, deren Perspektive in so bedeutsamen Angelegenheit sonst kaum je gefragt ist. Weltgeschichte gleichsam von unten, in Bildern, die Holzschnittwucht mit Präzision im Detail vereinen.
Vom Überleben. Streng dem erzählten Leben entlang nähern sich Jessica Bab Bonde (Text) und Peter Bergting (Zeichnungen) in ihrem Band „Bald sind wir wieder zu Hause“den Biografien sechs Überlebender des Holocaust an, denen Schweden zur neuen Heimat wurde: „Tobias, Livia, Selma, Susanna, Emmerich und Elisabeth haben uns ihre Geschichten erzählt, damit wir die Möglichkeit bekommen zu verstehen, was passieren kann, wenn wir mit der Freiheit, die wir heute haben, nicht vorsichtig umgehen“, hält Bonde im Geleitwort fest. Denn: „Ich glaube, dass diese Dinge auch uns, dir und mir und unseren Familien passieren können. Es kann passieren, wenn wir uns nicht mehr darum kümmern, wie wir miteinander umgehen oder was
die in ihrem Überschwang fast aus den Seiten zu platzen scheinen. Texter Julian Voloj folgt streng biografisch den Schlüsselszenen eines Außenseiterdaseins, das bis heute keinen kalt lässt.
In der Bildsprache sehr viel konventioneller, in der Wirkung freilich nicht weniger beeindruckend, wie der Band „They Called Us Enemy“von einem anderen Kapitel US-amerikanischer Geschichte berichtet: von der Internierung japanischstämmiger Einwanderer während des Zweiten Weltkriegs. Hier ist es ein Betroffener, der sich selbst zu Wort meldet: der Schauspieler George Takei, seit einem halben Jahrhundert einer weltweiten Fangemeinde wohlbekannt als Lieutenant Sulu an Bord des Raumschiffs Enterprise.
Takei, 1937 in Los Angeles als Sohn eines Japaners und einer in den USA aufgewachsenen japanischstämmigen Mutter geboren, wird nach dem Angriff auf Pearl Harbor gemeinsam mit 120.000 Leidensgenossen von den USBehörden ohne näheres Hinsehen als „enemy alien“eingestuft und mit seiner Familie in wechselnden Lagern festgesetzt. Was das Kind zunächst als ein wenig seltsames Abenteuer erlebt, wandelt sich nur allzu rasch zum Albtraum, für den es über Jahrzehnte keine offizielle Entschuldigung, geschweige denn eine Entschädigung gibt.
George Takei, assistiert von den Textern Justin Eisinger und Steven Scott, berichtet davon sachlich, nüchtern, ohne Emphase und genau deshalb nur umso eindringlicher. Die Illustratorin Harmony Becker steuert zurückhaltende, auf wenige Striche konzentrierte Bilder bei, denen jedes Bemühen um Effekt fremd ist.
Ähnlich distanziert und gleichermaßen nachhaltig skizziert die Münchner Comic-Künstlerin Birgit Weyhe die „Lebenslinien“ihrer Protagonisten. Für den Berliner „Tagesspiegel“hat sie, mehrheitlich auf Basis eigener Interviews, Biografien nachgezeichnet, die im Spannungsfeld von Heimatverlust und Heimatsuche angesiedelt sind. Was ist Heimat, lautet die Frage: ein Ort, eine Sprache, eine Überzeugung – oder Menschen, die unser Leben teilen? Eine Frage, auf die jeder und jede eine eigene Antwort finden muss, jedoch nicht immer findet.
Die Ereignisse des Jahrs 2015 seien Ausgangspunkt ihres Projekts gewesen, in Ordnung ist und was nicht.“Auch Bondes eigene Familiengeschichte ist voll von Verfolgung, Vertreibung, Exil. Die Mittvierzigerin bekennt: „Ich habe diese Geschichten schon immer gehört. Ich bin lang daran verzweifelt, weil ich nicht verstanden habe, wie es zum Holocaust kommen konnte.“So scheint es nur folgerichtig, dass Bonde berichtet Birgit Weyhe, „als auf einmal viele Geflüchtete mitten in Europa standen“. Doch sind es keineswegs nur Fluchtgeschichten, von denen sie erzählt: Da ist auch Priscilla aus Chicago, die nach einer Jugend als Punk honorige Professorin an einer US-Universität wird und doch in ihrem Herzen immer Punk bleibt. Oder Julio aus Havanna, den das Leben gegen seinen Willen nach Europa spült und der nach Jahren des Scheiterns hier letztlich dennoch Anschluss und Zukunft findet.
Ortlosigkeit. Eher Bildgeschichte denn Comic, kreisen Weyhes „Lebenslinien“immer wieder um Entfremdung, was sie überwinden und wie sie uns die Luft zum Atmen nehmen kann. Ein Thema, dem sich auch die junge kanadische Zeichnerin widmet, die sich kurz gg nennt und mit „Wie Dinge sind“ihre erste längere Comicerzählung vorgelegt hat. gg selbst ist die Tochter von Einwanderern, und ihre schwebenden, autobiografisch gefärbten Panels geben ohne viele Worte das Gefühl der Ortlosigkeit wieder, das Mitglieder der zweiten Generation so oft quält: die Empfindung, nicht mehr dort und noch nicht da zu sein, damit verbunden der Verlust der inneren Mitte.
Der steht, unter ganz anderen Voraussetzungen, auch im Fokus einer Serie von Erzählungen des Manga-Künstlers Yoshiharu Tsuge, entstanden Mitte der 1980er, die nun in dem Band „Der nutzlose Mann“versammelt sind. Hier braucht’s keinen Sprach- oder Kulturschock, um den Protagonisten ins soziale Out zu treiben: Es genügt, dem obersten Gebot jeder Leistungsgesellschaft nicht mehr zu gehorchen, nämlich dem, immer und um jeden Preis leistungsfähig zu sein.
Innere Emigration. Am Beispiel des Comiczeichners Sukegawa Sukezo, den Arbeitslosigkeit in innere Emigration zwingt, exerziert Tsuge vor, wie in einem stramm am materiellen Erfolg orientierten Gemeinwesen andere Werte einer Existenz bedeutungslos werden. Und Tsuge weiß, wovon er zeichnet. Sein „nutzloser Mann“samt dessen verzweifeltem Bemühen, einem in vermeintlicher Sinnlosigkeit ertrinkenden Leben durch geradezu groteske Beschäftigungsversuche Sinn zu geben, ist eigenen Erfahrungen abgeschaut – und dem eigenen Erstarren in hilfloser Agonie: vor dem eigenen Vorwurf des Versagens und jenem, der von anderen kommt. Ja, drinnen ist es warm und draußen kalt. Doch diese Kälte ist nur allzu oft eine, die mitten im Inneren der Gesellschaft ihren Ursprung hat.
Explosive Ästhetik, knallbunte Bilder, die fast aus den Seiten zu platzen scheinen.
und Bergting ihren Band nicht zuletzt an ein junges Publikum adressieren, was sich in einer Gestaltung niederschlägt, die allzu große Drastik genauso meidet wie allzu avancierte Ästhetik: Kluge Stilisierung und gedeckte Farben geben den Ton vor. Der Schrecken in unseren Köpfen ist ohnehin schrecklich genug.