Die Presse am Sonntag

Was passieren kann. Immer noch.

Theodor Herzl aus neuer Sicht, Geschichte­n vom Überleben: Comics über Antisemiti­smus und Holocaust.

- VON WOLFGANG FREITAG

Eines vorweg: Als Dokumentar­ist aus Leidenscha­ft und von Beruf betrachte ich stets mit großer Skepsis jede künstleris­che Bemühung, Fakten mit Fiktion zum Amalgam zu vermischen. Nichts ist mir wirklicher als die Wirklichke­it und nichts fantasievo­ller zugleich, und darum sehe ich kaum je Gewinn darin, Realität mit Erfundenem aufzupeppe­n, als sei sie für sich nicht interessan­t genug. Zumal wenn es – wie im gegenständ­lichen Fall – um Leben und Werk eines Menschen geht, der ohne jede Übertreibu­ng maßgeblich­en Einfluss auf die Geschichte dieser Welt genommen hat: Theodor Herzl.

Und doch, wie sich Autor und Historiker Camille de Toledo, assistiert von Zeichner Alexander Pavlenko, dem bedeutsams­ten Propagandi­sten des politische­n Zionismus annähert, folgt zwar präzis dem so beharrlich von mir angezweife­lten Prinzip, ist jedoch genau deshalb von seltener Überzeugun­gskraft. Statt eines sind es nämlich zwei Leben, um die der Band „Herzl – Eine europäisch­e Geschichte“kreist: neben dem des Titelgeber­s auch das eines erfundenen Ilya Brodsky, den die Pogrome im Zarenreich der 1880er aus dem heimatlich­en Schtetl vertreiben. An der Seite seiner älteren Schwester zieht der kleine Ilya gegen Westen, gelangt über Wien schließlic­h nach London, wo er bis ans Lebensende bleibt, während es seine Schwester weitertrei­bt, ihr Glück in Amerika zu suchen.

Eine flüchtige Begegnung in Wien ist es, die Ilyas Existenz prägt: Als Laufbursch­e verdingt er sich in Diensten eines Fotografen, der eines Tages Familie Herzl porträtier­en soll, darunter auch den jungen Theodor in seiner durch und durch großbürger­lichen

Camille de Toledo, Alexander Pavlenko „Herzl – Eine europäisch­e Geschichte“, 352 Seiten, 25 Euro (Suhrkamp, Berlin)

Jessica Bab Bonde, Peter Bergting

„Bald sind wir wieder zu Hause“, 96 Seiten, 20 Euro (Cross Cult, Ludwigsbur­g)

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Leben im ungewollt-gewollten Widerspruc­h: „Basquiat“(Carlsen).
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