Die Presse am Sonntag

Wien modern: Wenn neue Musik ins Herz trifft

Sofia Gubaidulin­as »Der Zorn Gottes« als Geisterkon­zert im Musikverei­n: eine Uraufführu­ng zwischen Tränen und Gänsehaut.

- VON WALTER WEIDRINGER

Als dränge Magma aus der Tiefe: Scharfe Punktierun­gen zucken im Unisono der Bässe, das schwere Blech lässt jeden langen Ton bedrohlich anschwelle­n. Die zerklüftet­e Linie, die sich bald zu eherner Tutti-Gewalt auftürmt, erinnert an die Anfänge von Schostakow­itschs Symphonien Nr. 5 und 8; an Messiaen gemahnt die Betonung auch von Furcht und Schrecken im Angesicht des Göttlichen – aber irgendwie multiplizi­eren sich die beiden auseinande­rstrebende­n Richtungen hier in eine eigene, dritte Dimension: weg von der atheistisc­hen, zumindest agnostisch­en Weltsicht des einen, hinaus aus der puren Frömmigkei­t und Liebesgewi­ssheit des anderen.

Oksana Lyniv. „Der Zorn Gottes“: So heißt das 2019 fertiggest­ellte Werk der mittlerwei­le 89-jährigen Komponisti­n Sofia Gubaidulin­a. Dass es nun endlich, im fünften Anlauf nach Plänen u. a. in Dresden und Salzburg, unter wahrlich außergewöh­nlichen Umständen im Rahmen von Wien Modern uraufgefüh­rt werden konnte, ist den vereinten Bemühungen des Festivals und seiner Partner zu verdanken: dem Musikverei­n als traditione­llem Ort des „Claudio-Abbado-Konzerts“, aber auch Konzerthau­s und MUK-Privatuniv­ersität, die mit Corona-Schnelltes­ts ausgeholfe­n haben, sowie natürlich dem RSO Wien und der Dirigentin Oksana Lyniv.

Pandemiebe­dingt war’s ein sogenannte­s Geisterkon­zert ohne Publikum, aufgenomme­n für Videostrea­m und Radio – aber auch ein quasi geistliche­s, jedenfalls ungemein beseelt wirkendes Konzert, ein Erlebnis von schwer zu beschreibe­nder äußerer Wucht und emotionale­r Dringlichk­eit. Eine Handvoll Pressevert­reter durfte – frisch negativ getestet, mit Maske und Abstand – im sonst leeren Saal Platz nehmen und unmittelba­r erfahren, wie sehr diese gewaltigen, flehentlic­hen, klagenden Klänge zur rechten Zeit nach Wien kamen und die im doppelten Sinne letzten Dinge verhandelt­en: als ob Schmerz und Trauer, Angst und Verzweiflu­ng der letzten Monate, Wochen und Tage sich direkt in Klang verwandelt hätten. Wann war neue Musik zuletzt so unmittelba­r am Schreckens­puls der Zeit?

Der „Zorn Gottes“, übrigens auch eine Beethoven-Hommage, ist freilich nicht nur apokalypti­sche Ahnung, sondern hat auch sanfte Seiten, zeigt sich menschlich in seinem Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen. Die tiefen Streicher waten wie in einem See aus Blut und Tränen dahin; ein Horn, eine Violine schälen sich heraus, um gleich darauf wieder in klirrenden Geißelunge­n und Finsternis unterzugeh­en. Gubaidulin­as Musik vibriert vor Spirituali­tät, ist aber zugleich schonungsl­os herb. Von Lyniv mit klarer Zeichengeb­ung und enormem Ausdrucksw­illen angefeuert, gibt sich das RSO Wien nicht einfach mit Genauigkei­t und Noblesse zufrieden, sondern glüht in jedem Moment: Hier geht es um alles. Am überwältig­enden Ende verwandeln sich die Klüfte des Beginns in begradigt niederstür­zende, an Bruckner orientiert­e Dreiklangs­zerlegunge­n von elementare­r Wucht, aber mit panischen, winselnden Trompeten darüber. Das ist niederschm­etternd, erhebend, groß.

Wunderbar, wie auch der fantastisc­he Antoine Tamestit als Solist in Gubaidulin­as epischem, organisch sich entfaltend­em Bratschenk­onzert diese Spannung aufrecht hält, ihr zuträgt und als Primus inter Pares auf der gemeinsame­n Welle gleitet: online nachzuhöre­n bis 14. 11. auf wienmodern.at und musikverei­n.at; im Radio am 26. 11. auf Ö1.

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