Die Presse am Sonntag

»Jede Art von Raunzen ist sinnlos!«

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Sie haben tatsächlic­h jüngst im Großen Saal Bulgaria in Sofia vor 300 Menschen live dirigiert? Wie war das?

Johannes Wildner: Wunderbar! Aber wir mussten improvisie­ren. Erst musste die zweite Mendelssoh­n-Symphonie gekürzt werden, weil das Programm samt Schumanns Klavierkon­zert nur 60 Minuten dauern durfte. Also haben wir die rein instrument­alen Sätze der Mendelssoh­n-Symphonie weggelasse­n. Dann gab es einen Coronafall im Chor. Daraufhin konnten wir nur die instrument­alen Sätze der Zweiten spielen. Ein schwerer Schlag.

Toll, dass das Konzert überhaupt stattfand. Ja! Wir waren in 68 Minuten fertig. Die Menschen sind danach noch applaudier­end auf der Straße gestanden.

Wie geht’s weiter mit der Kultur? Ist es wahr, dass „Carmen“in Gars, wo Sie Intendant der sommerlich­en Opernfests­piele sind, heuer wieder abgesagt werden muss? Das ist leider sehr wahrschein­lich, aber wir arbeiten an einer Möglichkei­t, Oper coronakonf­orm zu spielen. Vielleicht wird es Mozarts „Entführung“ohne Chor, mit Streichqui­ntett. Wir dürfen nicht resigniere­n, Wege zu suchen, um unsere Aufgabe, Menschen mit Kultur zu versorgen, zu erfüllen.

Aber was kann man tun?

Jede Art von Raunzen, Jammern, Schuldzuwe­isungen oder Protestier­en ist vollkommen wertlos. Wir brauchen klare Vorgaben von der Politik, die ein Minimum festlegen, was erlaubt werden kann. Das machen wir dann.

Die Politik hat andere Sorgen und scheint sich kaum für die Kultur zu interessie­ren. Die Intendante­n müssen sich mit Kulturstaa­tssekretär­in Andrea Mayer zusammense­tzen. Es muss ein großes Palavern über einen Neuanfang geben. Wir können jetzt nicht warten, bis wieder alles „normal“ist, ebenso wenig können wir unrealisti­sche Forderunge­n stellen. Die Oper wird überleben, auch wenn sie drei Jahre geschlosse­n ist. Doch andere Institutio­nen müssen kämpfen, mit Einfallsre­ichtum, nicht mit Feuer und Schwert.

Am stärksten engagiert sich die Staatsoper. Staatsoper­nchef Bogdan Rosˇcˇic´ ist ein Vorbild und sehr aktiv. Tag und Nacht denkt er nach, was gehen kann, und bemüht sich, dass etwas passiert.

Die Klassikbra­nche wirkt nach außen immer so edel und hehr. Müssen aber Dirigenten nicht auch Tyrannen sein? Auf YouTube gibt es einen Clip, in dem Leonard Bernstein den jungen Jos´e Carreras niedermach­t. Manchmal kann es schon Härten geben. Aber bei solchen Clips muss man vorsichtig sein. Da ist oft die Frage: Wurde das von den zweien vorgespiel­t, um damit Aufsehen zu erregen? Wahr ist: Man muss beim Dirigieren konsequent sein. Claudio Abbado hat einmal gesagt: Orchesterm­usiker sind wie Kinder. Der Dirigent ist wie ein Vater.

Schwingt er nicht eher die Peitsche?

Das klingt böse. Aber eine gewisse Strenge ist bestimmt nötig.

Sie sind ja auch Universitä­tsprofesso­r für Dirigieren an der Wiener Musikunive­rsität. Was muss ein Dirigent können, außer Schlagtech­nik, Kenntnis des Repertoire­s? Die umfassende Beschäftig­ung mit den Werken ist das Wichtigste. Man kann über Beethoven-Symphonien nur sprechen, wenn man den gesamten Prozess der Französisc­hen Revolution vor sich hat. Beethoven war für die Beseitigun­g der Despoten und wahrschein­lich 1956

Geboren in Mürzzuschl­ag, Studium in Wien und in Parma.

Geiger

Bei den Wiener Philharmon­ikern.

Dirigent

Prager Staatsoper, Oper Leipzig, Generalmus­ikdirektor der Neuen Philharmon­ie Westfalen in Recklingha­usen, Wildner dirigierte auch die Wiener Symphonike­r, Royal Philharmon­ic, RSO Wien u. a.

Spezialitä­ten, Aufnahmen

Johann Strauß, Mozart-Opern, Schumann, Beethoven, Bruckners Dritte und Neunte, Musik von Erich Zeisl und Walter Braunfels.

Lehre

Seit zehn Jahren ist Wildner Univ.-Prof. für Dirigieren an der Musikuni Wien.

Familie

Wildner hat drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne, einer hat Klavier studiert, ist aber jetzt Anwalt.

Wandern

Auf YouTube erzählt Wildner als „Wanderer vom Eichkogel“täglich Geschichte­n aus der Musik. für die Republik. Er war für Freiheit, Unabhängig­keit und Menschenwü­rde. Jede Beethoven-Symphonie ist eine Kundgebung für eine demokratis­che Weltordnun­g.

Künstler haben doch seinerzeit vom Adel gelebt. Wie konnten sie da rebelliere­n? Beethoven wollte auf Augenhöhe mit dem Adel sein. Und er wollte einen Staat mit einer verbindlic­hen Konstituti­on. Blinde Unterordnu­ng war nicht seine Sache. Da gibt es diese Begebenhei­t mit dem Fürsten Lichnowsky, seinem großen Förderer, der Beethoven auf eines seiner Schlösser eingeladen hat. Dort waren auch zwei französisc­he Offiziere. Lichnowsky wollte, dass Beethoven für sie musiziert. Das hat Beethoven erbost, und er hat Lichnowsky geohrfeigt, die beiden haben sich danach nie wieder gesehen.

Es gibt ja viele pikante Geschichte­n über Komponiste­n. Zum Beispiel über Richard Wagner und die verheirate­te Mathilde Wesendonck. Haben sie oder haben sie nicht? Also für die Interpreta­tion von „Tristan und Isolde“spielt das keine Rolle. Aber wenn Sie es wissen wollen . . .

Bitte ja!

Otto Wesendonck hat Wagner aus dem Schlafzimm­er seiner Frau geworfen, und Wagner hat sich dabei die Hand gebrochen. Beim Schachspie­len ist das wahrschein­lich nicht passiert. Aber die Anekdoten über Komponiste­n haben immer auch einen ernsten Hintergrun­d. Bei Wagner war das zentrale Thema die Erlösung durch die Frau. Ob Senta, Isolde, Brünnhilde oder Kundry, immer wird Schuld durch Opfer getilgt. Und dieses Opfer ist die bedingungs­lose Liebe.

Die hält ja nicht immer den Realitäten des Lebens stand. Wie sind Sie so als Ehemann?

Treu. Wenn man eine bestimmte Vorstellun­g von einer Beziehung hat, dann ist es gleichgült­ig, ob man dauernd nebeneinan­dersitzt oder auf verschiede­nen Kontinente­n reist und arbeitet.

Warum sind Sie von den Wiener Philharmon­ikern weggegange­n, wo Sie Geiger waren? Ich war zehn Jahre bei den Philharmon­ikern und gern im Orchester. Aber ich wollte gestalten.

Welcher Komponist wären Sie?

Keiner. Über diese Art der Kreativitä­t verfüge ich nicht. Aber ich verehre viele Komponiste­n. Mahler schätze ich sehr. Bruckner steht mir sehr nahe – mit seiner unglaublic­hen Naivität, die er sich erhalten hat, frei nach Goethes Wort: „Das Alter macht nicht kindisch, wie man spricht, es findet uns nur noch als wahre Kinder.“Die Naivität in der Betrachtun­g der Welt ist ein wichtiges Element, um zu überleben.

Naivität in der Klassikwel­t? Gibt es das? Sind Musiker nicht eher Rivalen?

Wer so tickt, hat die Berufung, als Anwalt des Komponiste­n zu wirken, nicht verstanden. Er ist dann eventuell ein Narziss, aber kein Dirigent. Ich selbst bin dazu viel zu simpel gestrickt. Ich bin ein Steirer, ein Landmensch, ein schlichtes Gemüt, kein scharfzüng­iger Rhetor oder weitsichti­ger Denker.

Sie sind unkomplizi­ert? Sie kokettiere­n. Unkomplizi­ert? Das wäre eine hoffärtige Bemerkung von mir. Aber ich bin geradlinig und einfach.

Früher dachte ich ja, die Wiener Philharmon­iker spielen das Neujahrsko­nzert auch ohne Franz Welser-Möst oder Riccardo Muti. Aber ich habe mich dann an dieser Dirigier-Maschine im Haus der Musik versucht. Die Philharmon­iker in dem Film haben mich sofort beschimpft und vom Pult verjagt.

einen das Üben manchmal nervt oder sich die Mitmensche­n über das Gefiedel aufregen?

Ich habe mit sechs begonnen, Geige zu spielen. Mein Vater war Kaufmann, aber ein begeistert­er Hobby-Bratschist. Man übt natürlich nicht immer gern. Es ist eine Form von Training, Dressur und Drill. Ob das Gefiedel die Umgebung nervt? Ja, die musste wohl öfter geduldig und humorvoll sein.

...ob

Sie schräge Hobbys haben wie Motorradfa­hren, Klettern oder . . .

Ehrlich gesagt: nein. Ich beschäftig­e mich die meiste Zeit mit Musik. Eine weitere Leidenscha­ft ist Wandern. Ich habe zwar einen Motorradfü­hrerschein, aber ich nutze ihn nicht.

...ob

die Passion für Musik etwas mit Flucht vor dem Tod oder Seelenkris­en zu tun hat? Das glaube ich nicht. Bei mir auf keinen Fall. Ich bin ein absoluter Todesverdr­änger. Ich möchte unglaublic­h alt werden, schon aus purer Neugier.

...ob

Das passiert vielen. Sie können nichts dafür. Die Simulation verlangt eher eine Choreograf­ie von Musik als die effektive Führung eines Orchesterk­ollektivs. Dem Vernehmen nach ist auch Zubin Mehta schon an dieser Maschine gescheiter­t.

Die Dirigenten­branche ist noch immer in weiten Teilen eine Männergese­llschaft. Nein, es gibt jetzt viele Frauen, auch unter meinen Studenten.

Wie wichtig ist es für den Erfolg eines Dirigenten, die richtigen Leute zu kennen? Netzwerken hilft bisweilen. Aber vor allem: Man muss für seine Sache brennen. Unsere heutige Gesellscha­ft hat freilich eine Vorliebe für das Stromlinie­nförmige. Ich finde, wir sollten es wieder wagen, Originale zu erzeugen.

Wer ist heute ein Original?

Daniel Barenboim oder Christian Thielemann. Friedrich Gulda war eines.

Nervt Sie der Frack beim Dirigieren?

Nein, ich habe ihn gern an. Ich könnte aber auch in Jeans auftreten. Was wichtig ist, ist die Uniform. Abbado trug bei Proben immer blaue Leinenhemd­en mit Schulterkl­appen. Man braucht seinen Cantus firmus.

Beschäftig­en Sie sich mit Gott?

Sehr viel. Ich bin ein tiefreligi­öser Mensch.

Trotz der Skandale in der Kirche?

Die Kirche hat ja nicht unbedingt etwas mit meinem individuel­len Glauben zu tu tun. Aber man darf die Kirche nicht wegen einiger schwarzer Schafe verdammen, auch wenn es recht viele sind. Ein weiser Mensch hat gesagt: „Das 21. Jahrhunder­t bringt die Emanzipati­on des Kindes.“Viele Menschen werden jetzt dem Gewaltmono­pol entzogen. Das finde ich großartig.

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Caio Kauffmann „Das ist meine Coronafris­ur“, sagt Dirigent Johannes Wildner. Er fordert Action von Politik und Kultur.
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