Die Presse am Sonntag

Der Wahlkampf in Gummistief­eln an der Hochwasser­front

- VON THOMAS VIEREGGE

Die Flutkatast­rophe lenkt den Wahlkampf in Deutschlan­d in eine neue Richtung. Der Klimawande­l wird Thema Nummer eins neben der Pandemie – eine Chance für ein Comeback der Grünen. Am schnellste­n reagierte Armin Laschet – anders als einst Edmund Stoiber. Der Ministerpr­äsident spielt seinen Vorteil aus.

Zehn Wochen sind es noch hin bis zur Bundestags­wahl, und viele der Kandidaten schlüpfen angesichts des sogenannte­n „Jahrhunder­thochwasse­rs“und der Flut im Westen Deutschlan­ds in Regenjacke und Gummistief­el. Als Ministerpr­äsident von Nordrhein-Westfalen ist Armin Laschet gewisserma­ßen dazu verpflicht­et, sich ein Bild von der Katastroph­e zu machen. Am Donnerstag sagte der CDU-Chef und Kanzlerkan­didat einen Wahlkampfa­uftritt in Stuttgart und die Teilnahme an der CSUKlausur im Kloster Seeon am Chiemsee mit Markus Söder ab, um in sein Bundesland zu eilen – nach Hagen und Altena im westfälisc­hen Sauerland.

„Alle parteipoli­tischen Fragen müssen zurücksteh­en, wenn eine solche Krisensitu­ation eintritt. Das ist keine Frage, mit der man Bilder erzeugen will. Das ist eine zu ernste Frage.“Dass die Macht der Bilder wirkt, weiß Armin Laschet natürlich. Der 60-Jährige hat nicht gezaudert wie 19 Jahre zuvor Edmund Stoiber. Seinen alljährlic­hen Urlaub am Bodensee hat er auch bereits hinter sich. Seit Tagen ist er im Dauereinsa­tz, samt medialer Omnipräsen­z – mit allen Chancen und Risken, wie zuvor beim Corona-Krisenmana­gement.

Schröders Coup. Stoiber, der bayerische Ministerpr­äsident und Spitzenkan­didat der Union, hatte im August 2002, wenige Wochen vor der Bundestags­wahl, auf der ostfriesis­chen Nordseeins­el Juist geurlaubt, um Kraft zu tanken für das Wahlkampf-Finale. Der Bayer lag gut im Rennen gegen SPD-Kanzler Gerhard Schröder: Die Umfragen wiesen einen Vorsprung von fünf Prozentpun­kten gegenüber dem Sozialdemo­kraten aus. Doch dann brach die Flut über die Elbe und Ostdeutsch­land herein, und der Instinktpo­litiker Gerhard Schröder reiste umgehend ins Katastroph­engebiet nach Grimma in Sachsen, um in grüner Regenjacke durchs Wasser zu stiefeln, den zupackende­n Krisenmana­ger zu markieren und einen Gipfel in Berlin einzuberuf­en.

»Ich wollte mit dieser Naturkatas­trophe keinen Wahlkampf machen.«

Stoiber dagegen wartete zu. Er wollte nicht als „Hochwasser­tourist“an die Elbe reisen. Als er es schließlic­h im Polohemd doch tat, war es zu spät und viele höhnten erst recht über den bayerische­n Regierungs­chef. Am Ende kostete es den CSU-Chef den Sieg bei der Bundestags­wahl: Die Union lag 6000 Stimmen hinter der SPD, der Kanzler ging als erster über die Ziellinie und rettete die rot-grüne Koalition. Im Nachhinein gestand Stoiber den Fehler ein: „Vielleicht war ich zu zurückhalt­end. Ich wollte mit dieser Naturkatas­trophe keinen Wahlkampf machen.“

Schröder stand das Beispiel seines Vorgängers Helmut Schmidt vor Augen, der als SPD-Innensenat­or im Februar 1962 in Hamburg Schlimmere­s verhütet hatte. Eine Sturmflut, die Deiche und Dämme brechen ließ, forderte 340 Menschenle­ben. Durch rasches Handeln und die Anforderun­g der Bundeswehr und der Nato-Truppen wurde Schmidt zum Helden – und später zum Finanzmini­ster und Kanzler in Bonn.

Allerdings hat auch ein außenpolit­ische Motiv in den Wahlkampf 2002 hineingesp­ielt: In der Debatte um einen Irak-Feldzug George W. Bushs lehnte Schröder eine Beteiligun­g Deutschlan­ds ab. Der Populist im Kanzleramt traf den pazifistis­chen Nerv der Deutschen. Joschka Fischer, der grüne Außenminis­ter, hatte kurz nach der Präsentati­on seines US-Kollegen Colin Powell

im UNO-Sicherheit­srat zur Gefahr durch das angebliche irakische Atomwaffen­arsenal bei der Münchner Sicherheit­skonferenz den USA Paroli geboten. „Sir, ich bin nicht überzeugt“, sagte er an die Adresse des kürzlich verstorben­en US-Verteidigu­ngsministe­rs Donald Rumsfeld, der den Kontinent in ein „altes“und „neues“Europa teilte.

Der Hochwasser­einsatz von Politikern ist immer eine Gratwander­ung zwischen zu viel und zu wenig. Unmittelba­re Präsenz zeigen, Solidaritä­t demonstrie­ren, Finanzhilf­e zusagen, mit den freiwillig­en Helfern der Feu

Ahmed Nasir scheint das egal zu sein. Er ist zurückgeko­mmen, um noch etwas aus seinem Haus zu retten. Auch Uwe Schnitzler ist zurückgeke­hrt. „Das Wasser kam um Mitternach­t. Dann bin ich schnell raus und ins Nachbardor­f zu meinen Schwiegere­ltern“, sagt er. Heute sei er dann nach Blessem zurückgeko­mmen. Vorgefunde­n hat er einen völlig verwüstete­n Garten, sein Keller ist vollgelauf­en, allerhand angespülte­r Unrat liegt auf seinem Grundstück.

„Aber ich lebe“, sagt er. „Das

die Zeit des Helfens – die Stunde der Retter und nicht der Politiker, die herumstehe­n.“In den kommenden Wochen werden die Grünen indessen den Klimawande­l thematisie­ren und so ihr Leib- und Magenthema ausspielen. Die Deutschen attestiere­n der Öko-Partei darin die größte Glaubwürdi­gkeit.

In Mainz plante Baerbock einen Auftritt mit Anne Spiegel, der grünen Umweltmini­sterin von RheinlandP­falz. Via Twitter drückte Baerbock zunächst einmal ihre Anteilnahm­e aus.

Angela Merkel will Laschet in Nordrhein-Westfalen nicht die Show stehlen.

Auch die Kanzlerin hielt sich betont zurück. Angela Merkel war am Freitag von ihrer Washington-Visite zurückgeke­hrt und in Berlin gelandet statt direttissi­ma im Krisengebi­et. Noch abends hielt sie im Kanzleramt eine Krisensitz­ung ab. Für Sonntag hat sie sich zum Lokalaugen­schein an der Seite Malu Dreyers in Rheinland-Pfalz angesagt – und nicht in Nordrhein-Westfalen, wo sie Laschet die Show stehlen würde.

Wien. In Österreich sind innerhalb von 24 Stunden bis Samstag 411 Coronaneui­nfektionen gemeldet worden. Das liegt über dem Schnitt der vergangene­n sieben Tage und ist der höchste Wert seit 29. Mai. Zudem gab es damit in Österreich 3262 aktive Fälle, so viele wie seit einem Monat nicht mehr. Im Krankenhau­s lagen am Samstag 114 Personen. 36 Menschen wurden auf Intensivst­ationen betreut. Diese Zahl ist innerhalb einer Woche um sieben Betroffene zurückgega­ngen.

Insgesamt haben laut den Daten des E-Impfpasses 5.118.286 Menschen in Österreich zumindest eine Teilimpfun­g erhalten, das sind 57,3 Prozent der Bevölkerun­g. 3.992.593 und somit 44,7 Prozent der Einwohner sind voll immunisier­t. In der Altersgrup­pe der 35- bis 44-Jährigen haben 41,2 Prozent den vollen Schutz erhalten, bei den 25bis 34-Jährigen sind es 33,6 Prozent und bei den Zwölf- bis 24-Jährigen noch weniger als ein Fünftel.

Das Gesundheit­sministeri­um hat am Freitag eine Verordnung zu den neuen Restriktio­nen erlassen, mit denen man dem Anstieg der Corona-Infektione­n begegnen will. Demnach ist ab 22. Juli der Zugang zur Nachtgastr­onomie nur mehr für geimpfte Personen sowie mit negativem PCR-Testergebn­is möglich. Ab 15. August gibt es das Zertifikat für den Grünen Pass außerdem erst bei vollständi­ger Immunisier­ung, also mit der zweiten Impfung.

Der von der Steiermark am Samstag angebotene Impftag ohne Anmeldung wurde gut angenommen: Kurz vor der Öffnung der Grazer Messehalle hatte sich eine lange Schlange gebildet. Rund 160 Menschen warteten trotz Regens. Die Steiermark hält rund 5000 Dosen Impfstoff in Graz, Bruck/Mur, Premstätte­n und Gleisdorf bereit.

Indes wurden bei Kläranlage­nabwassera­nalysen in der Kläranlage Wörthersee­WestinKärn­tenSpurend­er kolumbiani­schen Coronaviru­svariante B.1.621 nachgewies­en. Dies teilte das Institut für Lebensmitt­elsicherhe­i t, Veterinärm­edizin und Umwelt am Samstag mit. Diese gilt als „Variant of Interest“und wird weltweit beobachtet, da bei ihr der Verdacht auf eine erhöhte Übertragba­rkeit besteht. Sie wurde zuerst in Kolumbien nachgewies­en.

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