Besuch vom Finkenkönig
Den scheuen Kernbeißer sieht man gewöhnlich nur im Winter, doch wer geduldig ist und ganzjährig füttert, darf sich auch im Sommer über seinen Besuch freuen.
Nein, sage ich zur Nachbarin, während wir auf das Futterhäuschen starren, das ist nicht der Buchfink, es ist ein Kernbeißer. Der ist zwar auch ein Fink, und tatsächlich kann man die beiden leicht verwechseln, aber den charakteristischen schwarzen Latz unter dem kräftigen Schnabel trägt nur der Finkenkönig, wie der im Sommer nur sehr selten gesichtete scheue Vogel im Volksmund heißt. Der schöne Vogel wirft wild mit den Körnern um sich, jausnet ein Weilchen und schwirrt dann wieder ab. Wir betrachten ihn erstaunt und wohlgefällig. Normalerweise sehen wir ihn nur im Winter, wenn Schnee liegt.
Vogelfutter im Sommer? Jawohl! Schon seit einiger Zeit wird in Fachkreisen darüber debattiert, ob Singvögel nur im Winter oder das ganze Jahr über gefüttert werden sollen. Die einen sagen nein, die anderen ja, die dritten vielleicht.
Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte. Das Nahrungsangebot für Vögel hängt direkt von der Art und Dichte der Bepflanzung ihrer Lebensräume ab – und hier mischt sich der Mensch bekanntlich völlig ungeniert und rücksichtslos ein. Er nimmt den Vögeln die kleinen Wäldchen weg, die Raine, die Sträucher und die Wiesen, in denen sie sich verstecken, in denen sie nisten, Samen und Beeren fressen und Insekten jagen können. Wer hat zuletzt eine Lerche singen und aufsteigen sehen?
Vor allem in Gebieten mit extrem ausgedehnten monokulturellen Agrarflächen, wie etwa dem Marchfeld, finden Vögel kaum noch Futter und Rückzugsgebiete. Wo das Nahrungsangebot nicht ausreicht, kann, ja soll, so meinen viele Ornithologen, auch im Sommer zugefüttert werden. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass man gerecht ist und nicht einzelne Vogelarten bevorzugt, stärkt und damit ungewollt ein Ungleichgewicht fördert.
Spezialfutter. Wenn Sie also auch in der wärmeren Jahreszeit zufüttern wollen, so streuen Sie nicht nur die übliche Körnernahrung ins Futterhäuschen, sondern ergänzen sie unbedingt auch mit Spezialfutter, das Früchte, Beeren und Ähnliches für diejenigen unter den Vögeln beinhaltet, die diese Art der Nahrung bevorzugen. Werden die durch die Futtergaben favorisierten Körnerfresser zu stark, verdrängen sie die anderen, und das wäre nicht Sinn der Sache.
Der deutsche Ornithologe Peter Berthold zählt zu den vehementesten
Verfechtern der Ganzjahres-, vor allem aber der Frühjahrsfütterung. Im Frühling ziehen die Vögel ihre Jungen groß, gerade dann benötigen sie viel mehr Nahrung als im Winter. Die wissenschaftlichen Fakten, so der Fachmann, sprechen eindeutig für die ganzjährige Fütterung. Das haben die Briten, bei denen seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich auch im Sommer zugefüttert wird, bereits in den 1970er-Jahren erforscht: Das mit Abstand meiste Futter putzten die Vögel in den Monaten Mai und Juni weg, wenn sie ihre Jungen versorgen müssen.
Ein kontinuierliches Futterangebot, auch das ist erwiesen, erhöht die Vogelpopulation. Die Vögel brüten früher, legen mehr Eier und bringen ihre Jungen besser durch. Und: Wer regelmäßig füttert, sieht eben nicht nur die üblichen Meisen und Amseln am Futterplatz, sondern bis zu 70 verschiedene Arten, weil die Vögel lernen, wo es etwas zu naschen gibt. Doch das kann dauern. Viele Vogelarten schauen anfangs den anderen zu und überwinden erst nach langem Zögern ihre Scheu. Geduld und Ausdauer sind angesagt. Zwischenzeitlich tummeln sich hier jedenfalls nicht nur die diversen Meisen am Futterplatz, auch Rotkehlchen, Stieglitz, Hausrotschwanz, die zierliche Mönchsgrasmücke und andere, wie der so scheue Kernbeißer, kommen und holen sich einen Schnabel voll ab.
Das Füttern ist natürlich nur ein schwacher Ausgleich dafür, was den Vögeln durch die Perfektionierung der Landwirtschaft, das Absäbeln jeglicher halbwegs wilder Zonen und das Verbauen von Brachflächen genommen wird. Das Wichtigste bleibt denn auch, für die gefiederten Sänger ein Umfeld zu schaffen, das sie nicht nur ernährt, sondern auch Verstecke und Nistmöglichkeiten bereithält.
Heimische Bäume und Sträucher sind dafür die erste Wahl. Vielleicht eine kleine Zone mit einer nur zweimal jährlich gemähten Blumenwiese. Auch Nistkästen werden gern angenommen, da hohle Bäume für Höhlenbrüter ebenfalls zunehmend Mangelware werden.
Bäume, Sträucher, Wiesen – das sind die Elemente, die Nahrungs- und Lebensgrundlage für Singvögel darstellen. Insbesondere der Rückgang der Insekten ist ein immenses Problem für Vögel. Die leben ebenfalls hauptsächlich in Wiesenzonen und in heimischen Sträuchern, wie etwa im Insektenparadies Nummer eins, dem Weißdorn. Die Dinge sind also immer komplizierter, als man annehmen möchte, und alles steht mit allem in Zusammenhang.