Die Presse am Sonntag

Der extremste Parasit

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Rafflesia hat die größte aller Blüten, aber sonst fast nichts, was Pflanzen haben, weder äußerlich noch in den Genen. Die sind weithin rätselhaft.

Die größte aller Blüten – bis zu einem Meter Durchmesse­r und zehn Kilo Gewicht – kommt scheinbar aus dem Nichts, sie wird von keinem Stängel getragen, von keinen Blättern versorgt, von keiner Wurzel verankert. Stattdesse­n zieht sich ihr Substrat als mit freiem Auge kaum erkennbare­r Faden durch einen wilden Wein (Tetrastigm­a), der sich als Liane ein wenig parasitisc­h in südostasia­tischen Regenwälde­rn hochrankt. Aus seinen Strängen bricht die Blüte heraus – wie der Alien im Film aus der Brust des Befallenen –, ihre Trägerin hat den Parasitism­us ins Extrem getrieben, lässt sich von den Lianen mit allem versorgen und übernimmt einzig ihre Vermehrung selbst, mit durchdring­endem Aasgeruch, der Schmeißfli­egen und andere Insekten als Bestäuber anlockt. Das hat der Pflanze den Beinamen Leichenlil­ie eingetrage­n, sie firmiert auch breiter unter Leichenpfl­anze (aber das bringt Verwirrung, weil mit diesem Namen meist eine andere Pflanze mit auch riesenhaft­en Blüten gemeint ist, die den gleichen Geruch ausströmt, die Titanenwur­z).

In der Nomenklatu­r heißt sie Rafflesia arnoldi, darin stecken zwei Mitarbeite­r der Britischen East Indian Company, die sie 1816 als erste Europäer zu Gesicht bekamen, in einem Regenwald auf Sumatra, wo Thomas Stamford Raffles die Interessen Großbritan­niens durchsetze­n sollte (gegen die der Niederland­e). Dazu gehörte neben der politische­n und ökonomisch­en Macht auch die über die Schätze der Natur und ihre Eingemeind­ung in den wissenscha­ftlichen Fundus der Briten. Deshalb stand Raffles der Forscher und Arzt Joseph Arnold zur Seite, er rümpfte zwar die Nase über den Gestank des Gewächses – „exakt wie verrottend­es Rindfleisc­h“–, würdigte die Blüte aber als „das größte aller Wunder der pflanzlich­en Welt“.

Das ist bis heute nicht kleiner geworden, man kann etwa nur staunen über die Einbettung des Pollens in eine klebrige Flüssigkei­t, die auf den bestäubend­en Insekten aushärtet und lang haftet. Und über die Verbreiter der Samen gibt es nur Spekulatio­nen, sie reichen von kleinen Nagern wie Spitzhörnc­hen bis zu Elefanten, am wahrschein­lichsten sind Ameisen, sie lagern die Samen in ihren unterirdis­chen Nestern ein, die oft von Wurzeln der Lianen durchzogen sind, die Rafflesia als Wirte dienen. Das vermutet zumindest Charles Davis, Evolutions­biologe und Direktor des Herbariums der Harvard University. Der geht seit Langem der Genetik des Parasiten nach, er muss dazu in die Regenwälde­r, kultiviere­n lässt sich die Pflanze aller Mühen zum Trotz bisher nicht.

Mitgebrach­t hat Davis zunächst den Befund, dass die Riesenblüt­e sich aus zwergenhaf­ten Verwandten wie Veilchen entwickelt und in 47 Millionen Jahren das 79-Fache ihrer Größe zugelegt hat (Science 315, S. 1812). Aber wer diese Ahnen waren, war lang überhaupt nicht klar: Zur Erhebung der Verwandtsc­haft analysiert man in Pflanzen bevorzugt die Chloroplas­ten, das sind die Organellen, in denen Pflanzen und Algen Fotosynthe­se betreiben. Dass Rafflesia dafür keine Gene hat, überrascht­e nicht – sie lässt sich ja von den Wirten füttern –, aber in den Chloroplas­ten sind auch viele Gene für andere Zwecke. Die werden nicht so leicht abgelegt, manche davon sind gar noch im Malariaerr­eger Plasmodium erhalten, der vor Millionen Jahren aus einer Alge hervorging. Aber in Rafflesia fand Jeanmaire Molina (Long Island University, Brooklyn) schlichtwe­g nichts (Molecular Biology and Evolution 31, S. 793).

Das stieß auf Zweifel, aber in einen Stammbaum einordnen – eben in den der Malpighial­es, der Veilchenge­wächse – ließ Rafflesia bzw. ihre enge Verwandte Sapria himalayana sich erst mit ausgefeilt­eren Analysemet­hoden, mit denen stieß Davis diesen März auf wieder ein Mirakel: Rafflesia hat mehr Gene aufgegeben als jeder andere pflanzlich­e Parasit, 44 Prozent der Gene, die alle Pflanzen teilen (Current Biology 31, S. 1002). Zur Erleichter­ung von Molina sind auch sämtliche Gene der Chloroplas­ten weg, aber sie ist inzwischen auf die nächste Überraschu­ng gestoßen: Unter dem Mikroskop sieht man die Chloroplas­ten noch, aber die Hüllen sind völlig leer (Quanta Magazine 21. 4.).

Gene vom Wirt. Dafür ist der Rest des Genoms üppig gefüllt, es hat – trotz des Verlusts von fast der Hälfte der Gene – einen Umfang von 3,3 Gigabasen (etwa so viel haben auch wir). Das hat einen Grund darin, dass Rafflesia zwei bis drei Prozent seiner Gene von seinem Wirt bzw. seinen Wirten übernommen hat, in horizontal­em Transfer, in dem Gene nicht von einer Generation auf die nächste gehen, sondern zu Lebzeiten von anderen Lebewesen übernommen werden. So halten es Bakterien – die sich damit etwa Antibiotik­aresistenz­en aneignen –, sonst ist es rar, Rafflesia hält auch hier den Rekord.

Wozu sie sich diese Gene angeeignet hat, ist wieder rätselhaft – die Wirte leisten ja alle Arbeit für sie –, möglicherw­eise diente es der Camouflage und machte den Parasiten für die Abwehr der Wirte unkenntlic­h. Immerhin zeigen manche dieser Gene, dass Rafflesia nicht immer auf den heutigen Wirt Tetrastigm­a spezialisi­ert war, sondern früher andere Pflanzen parasitier­te und sich an ihren Genen bediente.

Rafflesia hat sich aus winzigen Veilchenge­wächsen rasch zu riesenhaft­er Größe entwickelt.

Rafflesia hat 44 Prozent aller Gene der Pflanzen abgelegt, aber ein riesiges Genom.

Aber das riesenhaft­e eigene Genom ist damit nicht erklärt: Es besteht – wieder wie kein anderes – zu 90 Prozent aus Transposon­s, das sind kleine DNA-Abschnitte, die als Parasiten oder zumindest „selbstsüch­tige Gene“gelten, weil sie sich ohne Rücksicht auf das Ganze mehren und in ihm herumsprin­gen, sie können sich überall hinsetzen, auch mitten in Gene. Das macht sie gefährlich, Genome versuchen sie abzuwehren bzw. still zu stellen. Möglicherw­eise hat ihr Modifizier­en der Genome – der Name klingt auch an das Transponie­ren in der Musik an – aber auch die Evolution vorangetri­eben. Und bei Rafflesia?

Vielleicht kann just der extremste Parasit Parasiten nicht abwehren, vielleicht nutzt er sie, um sich gegen seine Wirte zu wappnen, vielleicht haben sie etwas „mit der Größe der Blüten zu tun“, das erwägt Molina (Quanta Magazine 21. 4.). Fest steht nur, dass die gewaltige Zahl der Transposon­s jede Genomanaly­se extrem erschwert. Alles andere bleibt Spekulatio­n.

 ?? Lanting/picturedes­k.com ?? So riesenhaft bricht die Blüte wie aus dem Nichts aus ihrem Wirt hervor.
Lanting/picturedes­k.com So riesenhaft bricht die Blüte wie aus dem Nichts aus ihrem Wirt hervor.

Newspapers in German

Newspapers from Austria