Der extremste Parasit
Rafflesia hat die größte aller Blüten, aber sonst fast nichts, was Pflanzen haben, weder äußerlich noch in den Genen. Die sind weithin rätselhaft.
Die größte aller Blüten – bis zu einem Meter Durchmesser und zehn Kilo Gewicht – kommt scheinbar aus dem Nichts, sie wird von keinem Stängel getragen, von keinen Blättern versorgt, von keiner Wurzel verankert. Stattdessen zieht sich ihr Substrat als mit freiem Auge kaum erkennbarer Faden durch einen wilden Wein (Tetrastigma), der sich als Liane ein wenig parasitisch in südostasiatischen Regenwäldern hochrankt. Aus seinen Strängen bricht die Blüte heraus – wie der Alien im Film aus der Brust des Befallenen –, ihre Trägerin hat den Parasitismus ins Extrem getrieben, lässt sich von den Lianen mit allem versorgen und übernimmt einzig ihre Vermehrung selbst, mit durchdringendem Aasgeruch, der Schmeißfliegen und andere Insekten als Bestäuber anlockt. Das hat der Pflanze den Beinamen Leichenlilie eingetragen, sie firmiert auch breiter unter Leichenpflanze (aber das bringt Verwirrung, weil mit diesem Namen meist eine andere Pflanze mit auch riesenhaften Blüten gemeint ist, die den gleichen Geruch ausströmt, die Titanenwurz).
In der Nomenklatur heißt sie Rafflesia arnoldi, darin stecken zwei Mitarbeiter der Britischen East Indian Company, die sie 1816 als erste Europäer zu Gesicht bekamen, in einem Regenwald auf Sumatra, wo Thomas Stamford Raffles die Interessen Großbritanniens durchsetzen sollte (gegen die der Niederlande). Dazu gehörte neben der politischen und ökonomischen Macht auch die über die Schätze der Natur und ihre Eingemeindung in den wissenschaftlichen Fundus der Briten. Deshalb stand Raffles der Forscher und Arzt Joseph Arnold zur Seite, er rümpfte zwar die Nase über den Gestank des Gewächses – „exakt wie verrottendes Rindfleisch“–, würdigte die Blüte aber als „das größte aller Wunder der pflanzlichen Welt“.
Das ist bis heute nicht kleiner geworden, man kann etwa nur staunen über die Einbettung des Pollens in eine klebrige Flüssigkeit, die auf den bestäubenden Insekten aushärtet und lang haftet. Und über die Verbreiter der Samen gibt es nur Spekulationen, sie reichen von kleinen Nagern wie Spitzhörnchen bis zu Elefanten, am wahrscheinlichsten sind Ameisen, sie lagern die Samen in ihren unterirdischen Nestern ein, die oft von Wurzeln der Lianen durchzogen sind, die Rafflesia als Wirte dienen. Das vermutet zumindest Charles Davis, Evolutionsbiologe und Direktor des Herbariums der Harvard University. Der geht seit Langem der Genetik des Parasiten nach, er muss dazu in die Regenwälder, kultivieren lässt sich die Pflanze aller Mühen zum Trotz bisher nicht.
Mitgebracht hat Davis zunächst den Befund, dass die Riesenblüte sich aus zwergenhaften Verwandten wie Veilchen entwickelt und in 47 Millionen Jahren das 79-Fache ihrer Größe zugelegt hat (Science 315, S. 1812). Aber wer diese Ahnen waren, war lang überhaupt nicht klar: Zur Erhebung der Verwandtschaft analysiert man in Pflanzen bevorzugt die Chloroplasten, das sind die Organellen, in denen Pflanzen und Algen Fotosynthese betreiben. Dass Rafflesia dafür keine Gene hat, überraschte nicht – sie lässt sich ja von den Wirten füttern –, aber in den Chloroplasten sind auch viele Gene für andere Zwecke. Die werden nicht so leicht abgelegt, manche davon sind gar noch im Malariaerreger Plasmodium erhalten, der vor Millionen Jahren aus einer Alge hervorging. Aber in Rafflesia fand Jeanmaire Molina (Long Island University, Brooklyn) schlichtweg nichts (Molecular Biology and Evolution 31, S. 793).
Das stieß auf Zweifel, aber in einen Stammbaum einordnen – eben in den der Malpighiales, der Veilchengewächse – ließ Rafflesia bzw. ihre enge Verwandte Sapria himalayana sich erst mit ausgefeilteren Analysemethoden, mit denen stieß Davis diesen März auf wieder ein Mirakel: Rafflesia hat mehr Gene aufgegeben als jeder andere pflanzliche Parasit, 44 Prozent der Gene, die alle Pflanzen teilen (Current Biology 31, S. 1002). Zur Erleichterung von Molina sind auch sämtliche Gene der Chloroplasten weg, aber sie ist inzwischen auf die nächste Überraschung gestoßen: Unter dem Mikroskop sieht man die Chloroplasten noch, aber die Hüllen sind völlig leer (Quanta Magazine 21. 4.).
Gene vom Wirt. Dafür ist der Rest des Genoms üppig gefüllt, es hat – trotz des Verlusts von fast der Hälfte der Gene – einen Umfang von 3,3 Gigabasen (etwa so viel haben auch wir). Das hat einen Grund darin, dass Rafflesia zwei bis drei Prozent seiner Gene von seinem Wirt bzw. seinen Wirten übernommen hat, in horizontalem Transfer, in dem Gene nicht von einer Generation auf die nächste gehen, sondern zu Lebzeiten von anderen Lebewesen übernommen werden. So halten es Bakterien – die sich damit etwa Antibiotikaresistenzen aneignen –, sonst ist es rar, Rafflesia hält auch hier den Rekord.
Wozu sie sich diese Gene angeeignet hat, ist wieder rätselhaft – die Wirte leisten ja alle Arbeit für sie –, möglicherweise diente es der Camouflage und machte den Parasiten für die Abwehr der Wirte unkenntlich. Immerhin zeigen manche dieser Gene, dass Rafflesia nicht immer auf den heutigen Wirt Tetrastigma spezialisiert war, sondern früher andere Pflanzen parasitierte und sich an ihren Genen bediente.
Rafflesia hat sich aus winzigen Veilchengewächsen rasch zu riesenhafter Größe entwickelt.
Rafflesia hat 44 Prozent aller Gene der Pflanzen abgelegt, aber ein riesiges Genom.
Aber das riesenhafte eigene Genom ist damit nicht erklärt: Es besteht – wieder wie kein anderes – zu 90 Prozent aus Transposons, das sind kleine DNA-Abschnitte, die als Parasiten oder zumindest „selbstsüchtige Gene“gelten, weil sie sich ohne Rücksicht auf das Ganze mehren und in ihm herumspringen, sie können sich überall hinsetzen, auch mitten in Gene. Das macht sie gefährlich, Genome versuchen sie abzuwehren bzw. still zu stellen. Möglicherweise hat ihr Modifizieren der Genome – der Name klingt auch an das Transponieren in der Musik an – aber auch die Evolution vorangetrieben. Und bei Rafflesia?
Vielleicht kann just der extremste Parasit Parasiten nicht abwehren, vielleicht nutzt er sie, um sich gegen seine Wirte zu wappnen, vielleicht haben sie etwas „mit der Größe der Blüten zu tun“, das erwägt Molina (Quanta Magazine 21. 4.). Fest steht nur, dass die gewaltige Zahl der Transposons jede Genomanalyse extrem erschwert. Alles andere bleibt Spekulation.