Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Corona macht eine dritte Lebensrefo­rmbewegung sichtbar: eine wissenscha­ftsfeindli­che Strömung mit Hang zu einer neuen Spirituali­tät und zu Verschwöru­ngstheorie­n.

Ende des 19. Jahrhunder­ts begann sich Widerstand gegen das „moderne“Leben zu regen: Als Alternativ­e zu Industrial­isierung, Urbanisier­ung und Materialis­mus strebten viele Menschen nach einer „naturgemäß­en Lebensweis­e“, man ersehnte Heil, man wollte von den „Zivilisati­onsschäden“erlöst werden. Diese schon bald als „Lebensrefo­rm“bezeichnet­e Bewegung hatte viele Gesichter – von Vegetarism­us und Naturheilk­unde über Nudismus, Tierschutz und Feminismus bis hin zu Ausdruckst­anz, Reformbekl­eidung und freier Liebe.

Der Erste und noch stärker der Zweite Weltkrieg setzten dem ein Ende. Doch der Gedanke blieb und brach in den 1960er-Jahren mit den Hippies wieder hervor. Es entwickelt­e sich ein alternativ­es Milieu, das viele Ideen der ersten Lebensrefo­rmbewegung reproduzie­rte – etwa freie Sexualität, alternativ­e Haartracht und Bekleidung oder „Aussteigen“auf dem Land. Diese Bewegung erlahmte mit der Zeit, u. a. weil viele Elemente in die Mainstream-Jugendkult­ur übernommen wurden.

Nun scheint eine dritte Lebensrefo­rmbewegung über Europa zu rollen, die in der Coronakris­e deutlich sichtbar geworden sei, postuliert der deutsche Extremismu­sexperte und Journalist Andreas Speit in seinem Buch „Verqueres Denken“(239 Seiten, Ch. Links Verlag, 18,90 Euro). Auch heute suchen viele Menschen nach alternativ­en Wegen und leben sie auch – Stichwort vegan statt Fleisch, Rad statt Auto, handgemach­t statt industriel­l, regional statt global, mit „ganzheitli­chen“statt materielle­n Werten. Häufig geht dies einher mit einem Hang zu „Alternativ­medizin“, Impfskepsi­s, Esoterik und einer neuen Spirituali­tät (Magier, Schamanen etc.). Diese Subkultur ist wissenscha­ftsfeindli­ch und hat auch kein Problem damit, gemeinsam mit Rechtsextr­emen gegen Pandemie-Maßnahmen für „die Freiheit“zu demonstrie­ren.

Bedrohlich findet Speit, dass es dabei offenbar nicht mehr weit ist zu (alten und neuen) Verschwöru­ngstheorie­n – etwa, dass Coronavire­n und -Impfungen von gewissen Milliardär­en und/oder von geheimen Organisati­onen in die Welt gesetzt wurden, um die Kontrolle zu übernehmen. Speit beschreibt diese Geisteshal­tung mit dem Kofferwort „Conspiritu­ality“, einem Hybrid aus „Konspirati­on“und „Spirituali­tät“. „Was in diesem Milieu für Fakten gehalten wird, beruht in der Regel auf verkürzten Analysen“, so Speit. „Auf den Straßen und in den sozialen Medien hat es sich zu einer emotionale­n Gemeinscha­ft zusammenge­funden.“

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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