Ein Gift, das alles zerstört
Ein Agent, ein Chemiker und ein Überläufer sind die dunklen Hauptfiguren in Roman, der die Tradition staatlicher Giftmorde in Russland aufrollt.
Nicht erst seit der Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny ist bekannt, das Giftanschläge zur Spezialität russischer Geheimdienste zählen. Die Liste der Opfer der letzten Jahre ist lang. Vor Nawalny waren es der Aktionskünstler Pjotr Wersilow, der Politiker Wladimir Kara-Mursa, die Journalistin Anna Politkowskaja sowie die Überläufer Sergej Skripal und Alexander Litwinenko, die Gift verabreicht bekamen. Schon in der Sowjetzeit wurde in enger Kooperation zwischen dem Geheimdienst, Chemikern, Ärzten und Militärs in geheimen Forschungseinrichtungen jenes todbringende Wissen entwickelt, auf das heute noch Agenten bei ihren Operationen zurückgreifen.
In die dunkle Parallelwelt der russischen Giftmischer führt auch das neue Buch von Sergej Lebedew. Lebedew, der sich bisher in seinen drei auf Deutsch veröffentlichten Romanen mit der jüngeren russischen Geschichte beschäftigt hat, wechselt in „Das perfekte Gift“in ein stärker spannungsgeladenes Genre. Doch Lebedews Buch ist kein simpler Agenten-Thriller: Im Vordergrund steht die Beziehung zwischen dem mörderischen Staat und seinen Mördern, die Frage nach Verantwortung und Reue. Der Roman verlangt Konzentration, wenn man die vielen zeitgeschichtlichen Verweise verstehen will.
Codenamen und Maßnahmen. Faszinierend ist jedenfalls, wie der Autor eine schaurige, parallel zur gesellschaftlichen Realität existierende Geheimwelt zum Leben erweckt, die von Codenamen, Sondereinheiten, Beschattungsprotokollen und sogenannten Maßnahmen – Geheimoperationen – bestimmt ist; eine Welt, in der jegliche Befehle unbedingt ausgeführt werden. Bei Lebedew lernt man Protagonisten kennen, deren biografische Einzelheiten normalerweise im Dunkel bleiben.
Schicksale wie die von Wyrin, einem Ex-Agenten und Überläufer in den Westen, der sich trotz neuer Identität und Gesichtsoperation niemals ganz sicher vor seinen Rächern wähnen kann. Seine Kaderakte in der früheren Heimat war „wie eine Voodoo-Puppe, in die ein Hexenmeister jederzeit seine tödlichen Nadeln stechen konnte“,
Sergej Lebedew „Das perfekte Gift“
Übersetzt von Franziska Zwerg Verlag S. Fischer 255 Seiten
22,90 Euro heißt es an einer Stelle. Bei einem Restaurantbesuch wird er von einem Unbekannten vergiftet und stirbt.
Dann ist da die Geschichte von Kalitin, einem Chemiker, der jahrelang in geheimen Labors unter idealen Arbeitsbedingungen an der Entwicklung von Kampfstoffen gearbeitet hatte, bevor auch er sich in der kriselnden Perestrojka-Zeit ins Ausland absetzte. An den Forscher-Ruhm von einst konnte er, der nun als krebskranker Einsiedler in einem ostdeutschen Dorf lebt, niemals wieder anknüpfen. Doch hat er noch einen „geheimen Begleiter, seinen Joker“im Talon, den er einst aus dem russischen Labor mitgehen ließ: ein unsichtbares Gift namens Debütant, von dessen Existenz nur wenige Eingeweihte wissen. Nicht zufällig erinnert die Begriffswahl an das zu zweifelhaftem Ruhm gekommene Gift Nowitschok, das übersetzt Neuling oder Anfänger heißt. Nach Wyrins Tod soll Kalitin als Experte bei einer Untersuchung mitwirken, um zur Klärung der Mordwaffe beizutragen.
Und hier kommt die dritte Hauptperson des Romans ins Spiel: Oberstleutnant Scherschnjow, operativer Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes, muss Kalitin aufspüren und beseitigen. Anders als Wyrin ist er seiner Institution über die Jahre treu geblieben: „Er glaubte an die grenzenlose Fähigkeit ihrer Behörde, andere einzuschüchtern, zu brechen, zu durchleuchten. Die absolute Wahrheit herauszufinden, wenn nötig.“
Doch bei der als Urlaubsreise getarnten Operation mit einem Kollegen läuft nicht alles glatt. „Kein Hinterhalt. Kein Gegenspiel. Der übliche Schwachsinn, ein Versagen des Buchungssystems“, wird trocken konstatiert, als Scherschnjow im Zug den ihm zugedachten Sitzplatz nicht finden kann. Die Fehler sollen noch fataler werden. Lebedew erinnert damit nicht zuletzt an Einsätze russischer Agenten in jüngerer Zeit, bei denen peinliche Missgeschicke unterlaufen sind. Und aus Jägern plötzlich selbst Gejagte wurden.