Die Presse am Sonntag

Transgende­r im Sport: Wann ist eine Frau eine Frau?

- VON CHRISTOPH ZOTTER

Erstmals in der Geschichte tritt bei Olympische­n Spielen eine Transfrau um Medaillen an. Aber ist es fair, wenn jemand mit der früheren Biologie eines Mannes mit Frauen konkurrier­t? Wie der Sport die Grenze zwischen den Geschlecht­ern neu vermisst.

Mit schweren Schritten betritt Laurel Hubbard die Bühne. Sie reibt ihre Hände in Kalk, atmet noch einmal durch, geht in die Knie und umklammert mit ihren Fingern die Metallstan­ge, an der massive Gewichte angebracht sind.

Was dann kommt, hat die Neuseeländ­erin in ihren Leben Hunderte, sogar Tausende Male gemacht: Sie zwingt ihre Muskeln, eine mehr als 120 Kilogramm schwere Stange über ihren Kopf zu werfen, wo sie die Last ein paar Sekunden halten müssen. Doch dieses Mal wird etwas anders sein.

Wenn Laurel Hubbard am 2. August in einer Sporthalle in Tokio Gewichte stemmt, wird sie die erste Frau der Geschichte sein, die an Olympische­n Spielen teilnimmt und die meisten Jahre ihres Lebens als Mann verbracht hat. Denn Hubbard ist eine Transfrau. Laurel hieß einmal Gavin. Als sie 35 Jahre alt war, begann sie Hormone zu nehmen, die ihren Körper weiblicher machen. Nun ist sie 43 und hat eine realistisc­he Chance, in der Gewichtskl­asse über 87 Kilogramm eine olympische Medaille zu gewinnen. Es gibt Menschen, die darin einen Skandal sehen, einen Tabubruch.

Denn durch den Sport zieht sich eine Linie: hier die Männer, dort die Frauen. In der Vergangenh­eit gab es nur wenige, die sie überschrit­ten.

Das berühmtest­e Beispiel aus Österreich ist der Fall Erik Schinegger: Bei der Geburt als Mädchen eingestuft und Erika getauft, gewann er 1966 die Weltmeiste­rschaft der Frauen in der Skiabfahrt und wurde österreich­ische Sportlerin des Jahres. Zwei Jahre später wurde bei den Olympische­n Spielen im französisc­hen Grenoble festgestel­lt, dass die Spitzenspo­rtlerin genetisch ein Mann ist, dessen Geschlecht­steile nach innen gewachsen waren. Erika ließ sich operieren, hieß ab nun Erik und beendete die Karriere.

Ein halbes Jahrhunder­t später ist die Linie noch immer da. Doch wo sie genau verläuft, wird immer hitziger debattiert. Viele westliche Gesellscha­ften haben sich Lebenskonz­epten geöffnet, in denen sich die Menschen aussuchen können, in welcher Geschlecht­errolle sie ihr Leben verbringen möchten. Dafür sind keine Operatione­n oder Hormonther­apien mehr nötig, ein aufrichtig­es Bekenntnis reicht.

Im Leistungss­port ist das nicht genug. Hier zählen Daten, Blutwerte, Leistungst­ests. Mit ihnen wird die Linie gezogen, die klären soll: Wann ist ein Mann ein Mann? Oder im Fall Hubbard: Wann ist eine Frau eine Frau?

Faktor: Testostero­n. Geht es nach dem Internatio­nalen Olympische­n Komitee (IOC) ist die Antwort klar: Als Frau gilt, wer sich als Frau bezeichnet. Eine früher verpflicht­ende Operation der Geschlecht­smerkmale ist seit 2015 nicht mehr nötig. Der Körper wird nicht überprüft. Nur das Testostero­nlevel muss ein Jahr vor dem Wettkampf dauerhaft auf unter zehn Nanomol pro Liter Blut gesenkt werden. Für Frauen, die bei den Männern starten wollen, gibt es keine Einschränk­ung.

Das Problem: Die wissenscha­ftliche Grundlage für diese Definition einer Frau im Leistungss­port ist umstritten. Der weltweite Verband für Leichtathl­etik beispielsw­eise legte vor ein paar Jahren für Laufwettbe­werbe von 400 Metern bis einer Meile einen Testostero­nwert von fünf Nanomol pro Liter fest. Das ist noch immer mehr als das Doppelte der rund zwei Nanomol pro Liter, die laut Daten des Verbandes bei Frauen das obere Ende des Durchschni­tts bilden.

Klar ist: Testostero­n wirkt sich stark auf die sportliche Leistung aus. Muskeln wachsen schneller, die Knochendic­hte wird höher. In der Pubertät legen Männer weniger Fett an, können mehr Sauerstoff im Blut transporti­eren.

Ein Frau mit XY-Chromosome­n. Welche Debatten im Sport daraus entstehen können, zeigt der Fall Caster Semenya: Die südafrikan­ische Läuferin gewann bei zwei Olympische­n Spielen über 800 Meter die Goldmedail­le. Die 30-Jährige ist intergesch­lechtlich, sie wurde bei der Geburt als Frau eingestuft, verfügt aber über ein männliches XY-Chromosome­npaar und ein natürlich hohes Level des Sexualhorm­ons.

»Sie hat als Mann trainiert, diese Trainings lassen sich nicht rückgängig machen.«

In Tokio wird Semenya nicht antreten. Ihr Testostero­n liegt zwar unter den zehn Nanomol des IOC, aber über den fünf des Weltleicht­athletikve­rbandes. Weil sie also vor den Spielen nicht die 800 Meter laufen darf, kann sie sich in ihrer Paradedisz­iplin nicht mehr qualifizie­ren. Derzeit gäbe es für die Läuferin nur einen Ausweg: Sie müsste Mittel nehmen, die ihren natürliche­n Testostero­ngehalt senken. In anderen Worten: Sie müsste sich herunterdo­pen, schlechter werden.

Markus Koch hält diesen Eingriff in die Biologie der Sportlerin für absurd. Schließlic­h hätten etwa Großgewach­sene im Basketball auch einen Vorteil, der niemanden störe. Dass auf der anderen Seite die als Mann aufgewachs­ene Laurel Hubbard nun bei den Frauen antritt, ist für den Pressespre­cher des österreich­ischen Gewichtheb­erverbands „sportlich nicht fair“. Nicht nur, weil Österreich in derselben Gewichtskl­asse mit der 21-jährigen Sarah Fischer eine Konkurrent­in für die Neuseeländ­erin stellt. „Sie hat jahrelang als Mann trainiert, und nur durch den runtergedr­ückten Testostero­nspiegel lassen sich diese Trainingse­inheiten nicht rückgängig machen“, so Koch. Bei Gewichtheb­ern zeige sich, dass bis zum Alter von 13 oder 14 Jahren die Mädchen und die Burschen nahezu gleichauf sind.

Mit der Pubertät ziehen die Burschen davon. „In jungen Jahren werden die Knochen, Knorpel und Muskeln weiterentw­ickelt“, sagt Koch. „Das kann man im Leistungss­port im Alter auch nicht mehr aufholen.“

Wissenscha­ft uneins. Für den Gewichtheb­erverband ist Hubbard aber „ein Einzelfall und bereitet uns keine schlaflose­n Nächte“, so Koch. Die internatio­nale Forschung hingegen beschäftig­t sich schon länger mit der Frage, ob es reicht, für ein Jahr den Hormonspie­gel zu senken, um einen fairen Wettbewerb sicherzust­ellen.

Die Antwort ist offen. Die Argumente der Befürworte­r orientiere­n sich an Forschunge­n der kanadische­n Ärztin und Langstreck­enläuferin Joanna Harper. Sie legte eine Studie vor, nach der die Leistung von Langstreck­enläufern nach einem Jahr Hormonther­apie um rund elf bis zwölf Prozent sinken würde. Das sei auch ungefähr die Differenz der Laufzeiten zwischen Männern und Frauen. Harper beriet das IOC bei seinen im

Jahr 2015 neu aufgestell­ten

Limits für Testostero­n im

des Karolinska Institutet in einem Vorort von Stockholm arbeiten nun an einer Langzeitst­udie.

Auch Harper forscht weiter. Ihre bisherige Arbeit lasse sich nicht auf alle Sportarten umlegen, sagt sie. Es sei nicht klar, ob sich die Linie zwischen Mann und Frau allein anhand des Testostero­nlevels

Gewichtheb­erin und Transfrau

im Blut ziehen lasse. Sie glaubt aber, dass „sinnvolle Wettbewerb­e“zwischen Frauen möglich sind – auch wenn ein paar von ihnen als biologisch­e Männer aufgewachs­en sind.

„Manche meinen, das Problem sei nicht lösbar“, sagt der Sportsozio­loge Otmar Weiß von der Universitä­t Wien. Er selbst zeigt sich aber zuversicht­lich, das IOC arbeite gerade an einer neuen Fassung seiner Testostero­nbestimmun­gen. „Wenn man das wissenscha­ftlich absichert, hat man weitgehend Chancengle­ichheit, und die Debatte ist vom Tisch“, sagt Weiß.

Nur: Derzeit deutet wenig darauf hin, dass sich diese Prophezeiu­ng erfüllt. In den USA haben 27 Bundesstaa­ten angekündig­t, Transfraue­n im Schulsport nicht bei den Frauen starten zu lassen. Der Weltrugbyv­erband schloss Transfraue­n aus, die Funktionär­e befürchten ein erhöhtes Verletzung­srisiko für andere Spielerinn­en.

„Schlechter Scherz“. Auch Laurel Hubbard wurde zur Symbolfigu­r – und Angriffsfl­äche. „Ein schlechter Scherz“, sagte eine niederländ­ische Gewichtheb­erin über die Teilnahme der Transfrau an Olympia. Manche Verbände wollten sie in der Vergangenh­eit daran hindern, an Wettbewerb­en teilzunehm­en. Unter YouTube-Videos wird über ihre Geheimrats­ecken gelästert.

Als Hubbard 20 Jahre alt war und noch ein Mann, lag ihr Rekord im Zweikampf bei 300 Kilogramm. Sie habe Gewichte gehoben, weil sie sich männlicher fühlen wollte, sagte sie in einem ihrer seltenen Interviews. Weil das nicht half, hörte sie mit 23 Jahren auf: Gavin Hubbard schaffte es im Gewichtheb­en nicht an die Weltspitze.

»Wenn man das wissenscha­ftlich absichert, ist die Debatte vom Tisch.«

Die 43-jährige Laurel gehört nun dazu – auch wenn Gold eine Überraschu­ng wäre. Ihr Rekord als Frau liegt bei 285 Kilogramm – fünf Prozent weniger als zu ihrer Zeit als junger Mann.

„Was auch immer Leute über Menschen in meiner Situation denken – ich hoffe, sie behandeln Menschen wie mich mit Respekt“, sagte die mediensche­ue Hubbard im Jahr 2017 einem neuseeländ­ischen Sender. Sie kämpfte mit den Tränen. „Was will man mehr?“

Die Spiele in Tokio werden wegen der Covidpande­mie ohne Zuschauer stattfinde­n. So wird Laurel Hubbard nie wissen, ob das Publikum sie als Mann ausgebuht oder für ihre Leistung als Transfrau applaudier­t hätte.

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Die Läuferin Caster Semenya müsste sich herunterdo­pen, um bei Olympia mitzumache­n.
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