Transgender im Sport: Wann ist eine Frau eine Frau?
Erstmals in der Geschichte tritt bei Olympischen Spielen eine Transfrau um Medaillen an. Aber ist es fair, wenn jemand mit der früheren Biologie eines Mannes mit Frauen konkurriert? Wie der Sport die Grenze zwischen den Geschlechtern neu vermisst.
Mit schweren Schritten betritt Laurel Hubbard die Bühne. Sie reibt ihre Hände in Kalk, atmet noch einmal durch, geht in die Knie und umklammert mit ihren Fingern die Metallstange, an der massive Gewichte angebracht sind.
Was dann kommt, hat die Neuseeländerin in ihren Leben Hunderte, sogar Tausende Male gemacht: Sie zwingt ihre Muskeln, eine mehr als 120 Kilogramm schwere Stange über ihren Kopf zu werfen, wo sie die Last ein paar Sekunden halten müssen. Doch dieses Mal wird etwas anders sein.
Wenn Laurel Hubbard am 2. August in einer Sporthalle in Tokio Gewichte stemmt, wird sie die erste Frau der Geschichte sein, die an Olympischen Spielen teilnimmt und die meisten Jahre ihres Lebens als Mann verbracht hat. Denn Hubbard ist eine Transfrau. Laurel hieß einmal Gavin. Als sie 35 Jahre alt war, begann sie Hormone zu nehmen, die ihren Körper weiblicher machen. Nun ist sie 43 und hat eine realistische Chance, in der Gewichtsklasse über 87 Kilogramm eine olympische Medaille zu gewinnen. Es gibt Menschen, die darin einen Skandal sehen, einen Tabubruch.
Denn durch den Sport zieht sich eine Linie: hier die Männer, dort die Frauen. In der Vergangenheit gab es nur wenige, die sie überschritten.
Das berühmteste Beispiel aus Österreich ist der Fall Erik Schinegger: Bei der Geburt als Mädchen eingestuft und Erika getauft, gewann er 1966 die Weltmeisterschaft der Frauen in der Skiabfahrt und wurde österreichische Sportlerin des Jahres. Zwei Jahre später wurde bei den Olympischen Spielen im französischen Grenoble festgestellt, dass die Spitzensportlerin genetisch ein Mann ist, dessen Geschlechtsteile nach innen gewachsen waren. Erika ließ sich operieren, hieß ab nun Erik und beendete die Karriere.
Ein halbes Jahrhundert später ist die Linie noch immer da. Doch wo sie genau verläuft, wird immer hitziger debattiert. Viele westliche Gesellschaften haben sich Lebenskonzepten geöffnet, in denen sich die Menschen aussuchen können, in welcher Geschlechterrolle sie ihr Leben verbringen möchten. Dafür sind keine Operationen oder Hormontherapien mehr nötig, ein aufrichtiges Bekenntnis reicht.
Im Leistungssport ist das nicht genug. Hier zählen Daten, Blutwerte, Leistungstests. Mit ihnen wird die Linie gezogen, die klären soll: Wann ist ein Mann ein Mann? Oder im Fall Hubbard: Wann ist eine Frau eine Frau?
Faktor: Testosteron. Geht es nach dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) ist die Antwort klar: Als Frau gilt, wer sich als Frau bezeichnet. Eine früher verpflichtende Operation der Geschlechtsmerkmale ist seit 2015 nicht mehr nötig. Der Körper wird nicht überprüft. Nur das Testosteronlevel muss ein Jahr vor dem Wettkampf dauerhaft auf unter zehn Nanomol pro Liter Blut gesenkt werden. Für Frauen, die bei den Männern starten wollen, gibt es keine Einschränkung.
Das Problem: Die wissenschaftliche Grundlage für diese Definition einer Frau im Leistungssport ist umstritten. Der weltweite Verband für Leichtathletik beispielsweise legte vor ein paar Jahren für Laufwettbewerbe von 400 Metern bis einer Meile einen Testosteronwert von fünf Nanomol pro Liter fest. Das ist noch immer mehr als das Doppelte der rund zwei Nanomol pro Liter, die laut Daten des Verbandes bei Frauen das obere Ende des Durchschnitts bilden.
Klar ist: Testosteron wirkt sich stark auf die sportliche Leistung aus. Muskeln wachsen schneller, die Knochendichte wird höher. In der Pubertät legen Männer weniger Fett an, können mehr Sauerstoff im Blut transportieren.
Ein Frau mit XY-Chromosomen. Welche Debatten im Sport daraus entstehen können, zeigt der Fall Caster Semenya: Die südafrikanische Läuferin gewann bei zwei Olympischen Spielen über 800 Meter die Goldmedaille. Die 30-Jährige ist intergeschlechtlich, sie wurde bei der Geburt als Frau eingestuft, verfügt aber über ein männliches XY-Chromosomenpaar und ein natürlich hohes Level des Sexualhormons.
»Sie hat als Mann trainiert, diese Trainings lassen sich nicht rückgängig machen.«
In Tokio wird Semenya nicht antreten. Ihr Testosteron liegt zwar unter den zehn Nanomol des IOC, aber über den fünf des Weltleichtathletikverbandes. Weil sie also vor den Spielen nicht die 800 Meter laufen darf, kann sie sich in ihrer Paradedisziplin nicht mehr qualifizieren. Derzeit gäbe es für die Läuferin nur einen Ausweg: Sie müsste Mittel nehmen, die ihren natürlichen Testosterongehalt senken. In anderen Worten: Sie müsste sich herunterdopen, schlechter werden.
Markus Koch hält diesen Eingriff in die Biologie der Sportlerin für absurd. Schließlich hätten etwa Großgewachsene im Basketball auch einen Vorteil, der niemanden störe. Dass auf der anderen Seite die als Mann aufgewachsene Laurel Hubbard nun bei den Frauen antritt, ist für den Pressesprecher des österreichischen Gewichtheberverbands „sportlich nicht fair“. Nicht nur, weil Österreich in derselben Gewichtsklasse mit der 21-jährigen Sarah Fischer eine Konkurrentin für die Neuseeländerin stellt. „Sie hat jahrelang als Mann trainiert, und nur durch den runtergedrückten Testosteronspiegel lassen sich diese Trainingseinheiten nicht rückgängig machen“, so Koch. Bei Gewichthebern zeige sich, dass bis zum Alter von 13 oder 14 Jahren die Mädchen und die Burschen nahezu gleichauf sind.
Mit der Pubertät ziehen die Burschen davon. „In jungen Jahren werden die Knochen, Knorpel und Muskeln weiterentwickelt“, sagt Koch. „Das kann man im Leistungssport im Alter auch nicht mehr aufholen.“
Wissenschaft uneins. Für den Gewichtheberverband ist Hubbard aber „ein Einzelfall und bereitet uns keine schlaflosen Nächte“, so Koch. Die internationale Forschung hingegen beschäftigt sich schon länger mit der Frage, ob es reicht, für ein Jahr den Hormonspiegel zu senken, um einen fairen Wettbewerb sicherzustellen.
Die Antwort ist offen. Die Argumente der Befürworter orientieren sich an Forschungen der kanadischen Ärztin und Langstreckenläuferin Joanna Harper. Sie legte eine Studie vor, nach der die Leistung von Langstreckenläufern nach einem Jahr Hormontherapie um rund elf bis zwölf Prozent sinken würde. Das sei auch ungefähr die Differenz der Laufzeiten zwischen Männern und Frauen. Harper beriet das IOC bei seinen im
Jahr 2015 neu aufgestellten
Limits für Testosteron im
des Karolinska Institutet in einem Vorort von Stockholm arbeiten nun an einer Langzeitstudie.
Auch Harper forscht weiter. Ihre bisherige Arbeit lasse sich nicht auf alle Sportarten umlegen, sagt sie. Es sei nicht klar, ob sich die Linie zwischen Mann und Frau allein anhand des Testosteronlevels
Gewichtheberin und Transfrau
im Blut ziehen lasse. Sie glaubt aber, dass „sinnvolle Wettbewerbe“zwischen Frauen möglich sind – auch wenn ein paar von ihnen als biologische Männer aufgewachsen sind.
„Manche meinen, das Problem sei nicht lösbar“, sagt der Sportsoziologe Otmar Weiß von der Universität Wien. Er selbst zeigt sich aber zuversichtlich, das IOC arbeite gerade an einer neuen Fassung seiner Testosteronbestimmungen. „Wenn man das wissenschaftlich absichert, hat man weitgehend Chancengleichheit, und die Debatte ist vom Tisch“, sagt Weiß.
Nur: Derzeit deutet wenig darauf hin, dass sich diese Prophezeiung erfüllt. In den USA haben 27 Bundesstaaten angekündigt, Transfrauen im Schulsport nicht bei den Frauen starten zu lassen. Der Weltrugbyverband schloss Transfrauen aus, die Funktionäre befürchten ein erhöhtes Verletzungsrisiko für andere Spielerinnen.
„Schlechter Scherz“. Auch Laurel Hubbard wurde zur Symbolfigur – und Angriffsfläche. „Ein schlechter Scherz“, sagte eine niederländische Gewichtheberin über die Teilnahme der Transfrau an Olympia. Manche Verbände wollten sie in der Vergangenheit daran hindern, an Wettbewerben teilzunehmen. Unter YouTube-Videos wird über ihre Geheimratsecken gelästert.
Als Hubbard 20 Jahre alt war und noch ein Mann, lag ihr Rekord im Zweikampf bei 300 Kilogramm. Sie habe Gewichte gehoben, weil sie sich männlicher fühlen wollte, sagte sie in einem ihrer seltenen Interviews. Weil das nicht half, hörte sie mit 23 Jahren auf: Gavin Hubbard schaffte es im Gewichtheben nicht an die Weltspitze.
»Wenn man das wissenschaftlich absichert, ist die Debatte vom Tisch.«
Die 43-jährige Laurel gehört nun dazu – auch wenn Gold eine Überraschung wäre. Ihr Rekord als Frau liegt bei 285 Kilogramm – fünf Prozent weniger als zu ihrer Zeit als junger Mann.
„Was auch immer Leute über Menschen in meiner Situation denken – ich hoffe, sie behandeln Menschen wie mich mit Respekt“, sagte die medienscheue Hubbard im Jahr 2017 einem neuseeländischen Sender. Sie kämpfte mit den Tränen. „Was will man mehr?“
Die Spiele in Tokio werden wegen der Covidpandemie ohne Zuschauer stattfinden. So wird Laurel Hubbard nie wissen, ob das Publikum sie als Mann ausgebuht oder für ihre Leistung als Transfrau applaudiert hätte.
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