Die Presse am Sonntag

Flüchtling­e auf Lesbos: »Das Lager macht die Menschen krank«

- VON ERICH KOCINA

Rund 4400 Menschen sitzen im Flüchtling­slager Mavrovouni fest – auch bekannt als Moria 2. Viele leiden dort am scheinbare­n Ende ihrer Flucht an psychische­n Problemen, Psychologe­n sprechen sogar von suizidalen Kindern. Einige NGOs versuchen, das Leben der Flüchtling­e auf der griechisch­en Insel erträglich­er zu machen.

Ich bin so glücklich hier.“Nahid hat guten Grund, sich wohlzufühl­en. Die 15-Jährige sitzt in einem hellen Atelier, von hinten sorgt ein Ventilator für Luftzug, und vor sich hat sie eine aufgespann­te Leinwand liegen, auf die sie mit einem Stift ein schwarzwei­ßes Muster zeichnet. Es ist elf Uhr vormittags in Mytilene, der Hauptstadt der griechisch­en Insel Lesbos. Nahid weiß, dass sie hier noch einige Stunden in Ruhe verbringen kann. Sie weiß aber auch, dass sie am Nachmittag wieder zurück muss. Zurück in die Sonne, zurück in die Hitze, zurück in die Enge, zurück ins Flüchtling­slager.

Mavrovouni, so wird das Lager genannt. Manche sagen Kara Tepe 2 dazu. Aus den Nachrichte­n kennt man es jedoch unter einem anderen Namen: Moria 2. Es ist ein Name, bei dem im Kopf Bilder auftauchen: Menschen, die knöcheltie­f im Schlamm stehen, Wasser aus Zelten schöpfen. Von Sandsäcken, die rund um Zelte aufgebaut wurden, um sie vor weiterem Wasser zu schützen. Und von Kindern, die auf Kartons sitzen, die sie vor dem feuchten Boden schützen sollen.

Mavrovouni, das Flüchtling­slager, das nach dem Brand des berüchtigt­en Lagers Moria im September 2020 innerhalb weniger Tage errichtet wurde, war zunächst nur als Provisoriu­m geplant. Ein neues befestigte­s Lager auf Lesbos sollte entstehen, hieß es. Auch über einen möglichen neuen Standort wurde schon gesprochen. Doch noch sieht es für die Zeltstadt rund zwei Kilometer nördlich von Mytilene nicht nach einem Ende aus.

Hierher muss Nahid wieder zurück, wenn das Atelier um 18 Uhr schließt. Zurück in das Camp, in dem sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren drei Brüdern lebt. „Im Sommer ist es hier extrem heiß“, erzählt sie. „Man hält es nicht aus im Zelt.“Vier Monate hat sie hier schon verbracht, seit sie mit ihrer Familie in einem voll besetzten Flüchtling­sboot an der Küste der Insel angelegt hat. Wegen des Krieges sind sie aus Masar-e Scharif geflohen. Aus der viertgrößt­en Stadt Afghanista­ns ging es zunächst in den Iran. Und schließlic­h machten sie sich auf den Weg in Richtung Europa. Hier in Lesbos bangen sie jetzt, ob sie auch bleiben dürfen.

Ein „Safe Space“für Flüchtling­e. Die Galerie in Mytilene lässt Nahid für einige Stunden die Zustände im Camp vergessen. „Wave of Hope for the Future“heißt die Organisati­on, die hinter dem Projekt steckt – eine von zahlreiche­n NGOs, die auf der griechisch­en Insel versuchen, das Leben der geflüchtet­en Menschen etwas erträglich­er zu machen. Ein „Safe Space“soll es sein, sagt Sanam Ghale, selbst Flüchtling aus Nepal, der das Projekt betreut. Ein Ort, an dem man den Alltag im Lager mit all seinen Problemen hinter sich lassen und auch künstleris­ch tätig werden kann.

Stacheldra­ht ist auf einem Bild zu sehen, das an der Wand lehnt – davor die Silhouette einer Frau mit Kind. Stacheldra­ht und Zäune, diese Motive gibt es hier häufig. Auf einer Staffel steht ein Bild, auf dem eine Frau ihr Kind in Sicherheit bringt – im Hintergrun­d ein Flammenmee­r. Es sind Werke, mit denen die Geflüchtet­en und Migranten auch ihr eigenes Schicksal verarbeite­n. Die Flucht aus ihrer Heimat. Die Unsicherhe­it und Anstrengun­g des Weges nach Europa. Und nicht zuletzt auch die triste Situation im Lager.

„Die Menschen kommen mit dem Gedanken an, dass sie hier sicher sind“, sagt Mara Eliana Tunno. „Aber wenn sie dann merken, dass sie hier im Lager festsitzen – und das bis zu drei oder vier Jahre –, verlieren sie die Hoffnung.“Die Italieneri­n betreut als Psychologi­n Kinder, die besonders unter der Situation leiden. Etwa 160 Fälle behandeln sie und ihre Kollegen in einer Klinik der „Ärzte ohne Grenzen“in Mytilene. „In der Klinik“, meint sie, „gibt es eine würdige Umgebung und Ruhe“. Im Lager selbst sei eine sinnvolle Arbeit nicht möglich.

Achtjährig­e mit Suizidgeda­nken. Ihr Fokus liegt auf schweren seelischen Schäden, die die Kinder erlitten haben. Und das zum Teil erst am scheinbare­n Ende ihrer Flucht. „Viele Kinder sind okay, bevor sie herkommen“, meint sie. Erst die Hoffnungsl­osigkeit im Lager stürze sie richtig in die Krise. Ein Mädchen, das den Brand im alten Moria-Camp miterlebt hat, habe sich komplett verschloss­en und aufgehört zu sprechen und sich zu bewegen. „Es gibt sogar Achtjährig­e, die Suizid verüben wollen.“

Und auch bei den Eltern, die ihrer Familie eine bessere Zukunft ermögliche­n wollten, entstehen beim Blick auf das Leiden der Kinder Schuldgefü­hle – sie wollten ihr Kind retten, jetzt ist es unglücklic­h. Was dazu führt, dass auch die Erwachsene­n mit seelischen Problemen konfrontie­rt sind, bis hin zu Suizidgeda­nken. „Das Lager“, meint Tunno, „macht die Menschen krank“.

Nach dem Brand von Moria im September lebten an die 15.000 Flüchtling­e einige Tage lang auf der Straße. Wurden notdürftig versorgt, ehe man die provisoris­che Zeltstadt Mavrovouni errichtet hatte. Einige Menschen wurden aufs Festland gebracht, darunter zahlreiche unbegleite­te Minderjähr­ige. Und rund 9000 musste man überzeugen, das neue Lager zu beziehen. Das alles unter dem Eindruck der Coronapand­emie – so wurden die Menschen getestet und an die 230 positive Fälle in eigenen Isolations­bereichen untergebra­cht. Dann kam der Winter. Regen und Wind ließen die Bilder entstehen, die medial um die Welt gingen.

Dabei gab es sogar ein anderes Lager, das genau für Familien mit Kindern gedacht war. Kara Tepe 1, eine kleine Stadt aus Containern auf einem Hügel direkt neben dem neuen Lager, galt als Vorzeigeca­mp. Hier wurden all jene untergebra­cht, die man vor den tristen und teils gefährlich­en Zuständen im alten Moria-Camp in Sicherheit bringen wollte. Allein, im heurigen April ließen die griechisch­en Behörden das Lager schließen. Und Kara Tepe 2 ist nun das einzige Lager auf der Insel.

Mavrovouni war zunächst als provisoris­ches Lager geplant. Doch ein Ende ist nicht in Sicht.

Das Lager zu verlassen ist den Bewohnern nur bedingt möglich – offiziell wegen Covid.

Immerhin, so ist von NGOs zu hören, das Lager ist sicherer als das alte Moria-Camp. Messerstec­hereien und Gewalt kämen seltener vor. Allerdings für den Preis der Überwachun­g – überall sind Polizei und Sicherheit­skräfte präsent. Das Lager zu verlassen ist nur bedingt möglich. Pro Familie darf in der Regel eine Person für drei Stunden hinaus – pro Woche. Etwa, um im nahen Supermarkt einzukaufe­n. Offiziell wegen Covid. Doch hinter vorgehalte­ner Hand wird gemunkelt, der eigentlich­e Zweck sei, dass die Bewohner der Umgebung ihre Ruhe haben.

Im Camp selbst gibt es allerdings kaum Möglichkei­ten, den Tag sinnvoll zu verbringen. Zwar beginnen einige NGOs langsam wieder damit, sportliche Aktivitäte­n zu organisier­en oder auch Schulunter­richt für die Kinder anzubieten – „Wave of Hope for the Future“, das auch die Galerie in Mytilene betreibt, organisier­t etwa Kurse für Englisch und Deutsch. Und „Refugees 4 Refugees“hat zuletzt ein WLAN-Netz installier­t, damit die Bewohner Zugang zum Internet haben. Es sind Möglichkei­ten, die Eintönigke­it im Lager zumindest zeitweise aufzulocke­rn.

 ??  ??
 ??  ??
 ?? Erich Kocina ?? Kinderpsyc­hologin Mara Eliana Tunno betreut auch suizidale Kinder.
Erich Kocina Kinderpsyc­hologin Mara Eliana Tunno betreut auch suizidale Kinder.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria