Flüchtlinge auf Lesbos: »Das Lager macht die Menschen krank«
Rund 4400 Menschen sitzen im Flüchtlingslager Mavrovouni fest – auch bekannt als Moria 2. Viele leiden dort am scheinbaren Ende ihrer Flucht an psychischen Problemen, Psychologen sprechen sogar von suizidalen Kindern. Einige NGOs versuchen, das Leben der Flüchtlinge auf der griechischen Insel erträglicher zu machen.
Ich bin so glücklich hier.“Nahid hat guten Grund, sich wohlzufühlen. Die 15-Jährige sitzt in einem hellen Atelier, von hinten sorgt ein Ventilator für Luftzug, und vor sich hat sie eine aufgespannte Leinwand liegen, auf die sie mit einem Stift ein schwarzweißes Muster zeichnet. Es ist elf Uhr vormittags in Mytilene, der Hauptstadt der griechischen Insel Lesbos. Nahid weiß, dass sie hier noch einige Stunden in Ruhe verbringen kann. Sie weiß aber auch, dass sie am Nachmittag wieder zurück muss. Zurück in die Sonne, zurück in die Hitze, zurück in die Enge, zurück ins Flüchtlingslager.
Mavrovouni, so wird das Lager genannt. Manche sagen Kara Tepe 2 dazu. Aus den Nachrichten kennt man es jedoch unter einem anderen Namen: Moria 2. Es ist ein Name, bei dem im Kopf Bilder auftauchen: Menschen, die knöcheltief im Schlamm stehen, Wasser aus Zelten schöpfen. Von Sandsäcken, die rund um Zelte aufgebaut wurden, um sie vor weiterem Wasser zu schützen. Und von Kindern, die auf Kartons sitzen, die sie vor dem feuchten Boden schützen sollen.
Mavrovouni, das Flüchtlingslager, das nach dem Brand des berüchtigten Lagers Moria im September 2020 innerhalb weniger Tage errichtet wurde, war zunächst nur als Provisorium geplant. Ein neues befestigtes Lager auf Lesbos sollte entstehen, hieß es. Auch über einen möglichen neuen Standort wurde schon gesprochen. Doch noch sieht es für die Zeltstadt rund zwei Kilometer nördlich von Mytilene nicht nach einem Ende aus.
Hierher muss Nahid wieder zurück, wenn das Atelier um 18 Uhr schließt. Zurück in das Camp, in dem sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren drei Brüdern lebt. „Im Sommer ist es hier extrem heiß“, erzählt sie. „Man hält es nicht aus im Zelt.“Vier Monate hat sie hier schon verbracht, seit sie mit ihrer Familie in einem voll besetzten Flüchtlingsboot an der Küste der Insel angelegt hat. Wegen des Krieges sind sie aus Masar-e Scharif geflohen. Aus der viertgrößten Stadt Afghanistans ging es zunächst in den Iran. Und schließlich machten sie sich auf den Weg in Richtung Europa. Hier in Lesbos bangen sie jetzt, ob sie auch bleiben dürfen.
Ein „Safe Space“für Flüchtlinge. Die Galerie in Mytilene lässt Nahid für einige Stunden die Zustände im Camp vergessen. „Wave of Hope for the Future“heißt die Organisation, die hinter dem Projekt steckt – eine von zahlreichen NGOs, die auf der griechischen Insel versuchen, das Leben der geflüchteten Menschen etwas erträglicher zu machen. Ein „Safe Space“soll es sein, sagt Sanam Ghale, selbst Flüchtling aus Nepal, der das Projekt betreut. Ein Ort, an dem man den Alltag im Lager mit all seinen Problemen hinter sich lassen und auch künstlerisch tätig werden kann.
Stacheldraht ist auf einem Bild zu sehen, das an der Wand lehnt – davor die Silhouette einer Frau mit Kind. Stacheldraht und Zäune, diese Motive gibt es hier häufig. Auf einer Staffel steht ein Bild, auf dem eine Frau ihr Kind in Sicherheit bringt – im Hintergrund ein Flammenmeer. Es sind Werke, mit denen die Geflüchteten und Migranten auch ihr eigenes Schicksal verarbeiten. Die Flucht aus ihrer Heimat. Die Unsicherheit und Anstrengung des Weges nach Europa. Und nicht zuletzt auch die triste Situation im Lager.
„Die Menschen kommen mit dem Gedanken an, dass sie hier sicher sind“, sagt Mara Eliana Tunno. „Aber wenn sie dann merken, dass sie hier im Lager festsitzen – und das bis zu drei oder vier Jahre –, verlieren sie die Hoffnung.“Die Italienerin betreut als Psychologin Kinder, die besonders unter der Situation leiden. Etwa 160 Fälle behandeln sie und ihre Kollegen in einer Klinik der „Ärzte ohne Grenzen“in Mytilene. „In der Klinik“, meint sie, „gibt es eine würdige Umgebung und Ruhe“. Im Lager selbst sei eine sinnvolle Arbeit nicht möglich.
Achtjährige mit Suizidgedanken. Ihr Fokus liegt auf schweren seelischen Schäden, die die Kinder erlitten haben. Und das zum Teil erst am scheinbaren Ende ihrer Flucht. „Viele Kinder sind okay, bevor sie herkommen“, meint sie. Erst die Hoffnungslosigkeit im Lager stürze sie richtig in die Krise. Ein Mädchen, das den Brand im alten Moria-Camp miterlebt hat, habe sich komplett verschlossen und aufgehört zu sprechen und sich zu bewegen. „Es gibt sogar Achtjährige, die Suizid verüben wollen.“
Und auch bei den Eltern, die ihrer Familie eine bessere Zukunft ermöglichen wollten, entstehen beim Blick auf das Leiden der Kinder Schuldgefühle – sie wollten ihr Kind retten, jetzt ist es unglücklich. Was dazu führt, dass auch die Erwachsenen mit seelischen Problemen konfrontiert sind, bis hin zu Suizidgedanken. „Das Lager“, meint Tunno, „macht die Menschen krank“.
Nach dem Brand von Moria im September lebten an die 15.000 Flüchtlinge einige Tage lang auf der Straße. Wurden notdürftig versorgt, ehe man die provisorische Zeltstadt Mavrovouni errichtet hatte. Einige Menschen wurden aufs Festland gebracht, darunter zahlreiche unbegleitete Minderjährige. Und rund 9000 musste man überzeugen, das neue Lager zu beziehen. Das alles unter dem Eindruck der Coronapandemie – so wurden die Menschen getestet und an die 230 positive Fälle in eigenen Isolationsbereichen untergebracht. Dann kam der Winter. Regen und Wind ließen die Bilder entstehen, die medial um die Welt gingen.
Dabei gab es sogar ein anderes Lager, das genau für Familien mit Kindern gedacht war. Kara Tepe 1, eine kleine Stadt aus Containern auf einem Hügel direkt neben dem neuen Lager, galt als Vorzeigecamp. Hier wurden all jene untergebracht, die man vor den tristen und teils gefährlichen Zuständen im alten Moria-Camp in Sicherheit bringen wollte. Allein, im heurigen April ließen die griechischen Behörden das Lager schließen. Und Kara Tepe 2 ist nun das einzige Lager auf der Insel.
Mavrovouni war zunächst als provisorisches Lager geplant. Doch ein Ende ist nicht in Sicht.
Das Lager zu verlassen ist den Bewohnern nur bedingt möglich – offiziell wegen Covid.
Immerhin, so ist von NGOs zu hören, das Lager ist sicherer als das alte Moria-Camp. Messerstechereien und Gewalt kämen seltener vor. Allerdings für den Preis der Überwachung – überall sind Polizei und Sicherheitskräfte präsent. Das Lager zu verlassen ist nur bedingt möglich. Pro Familie darf in der Regel eine Person für drei Stunden hinaus – pro Woche. Etwa, um im nahen Supermarkt einzukaufen. Offiziell wegen Covid. Doch hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, der eigentliche Zweck sei, dass die Bewohner der Umgebung ihre Ruhe haben.
Im Camp selbst gibt es allerdings kaum Möglichkeiten, den Tag sinnvoll zu verbringen. Zwar beginnen einige NGOs langsam wieder damit, sportliche Aktivitäten zu organisieren oder auch Schulunterricht für die Kinder anzubieten – „Wave of Hope for the Future“, das auch die Galerie in Mytilene betreibt, organisiert etwa Kurse für Englisch und Deutsch. Und „Refugees 4 Refugees“hat zuletzt ein WLAN-Netz installiert, damit die Bewohner Zugang zum Internet haben. Es sind Möglichkeiten, die Eintönigkeit im Lager zumindest zeitweise aufzulockern.