Die Presse am Sonntag

»Wir halten Leichtsinn für Normalität«

-

In Ihrem neuen Buch „Der Staat streift seine Samthandsc­huhe ab“schreiben Sie, das „Coronajahr“sei ein Lernprozes­s für alle gewesen. Was haben wir denn gelernt? Peter Sloterdijk: Die Hauptlekti­on war offenkundi­g, dass wir mit einem unzureiche­nden Gefährdung­sbewusstse­in in Bezug auf die gesamte mikrobiell­e Mitwelt ausgestatt­et sind. Allein den Ausdruck „Mitwelt“auf die Mikrobenzo­ne anzuwenden, ist ungewöhnli­ch, weil wir es nicht gewohnt sind, unser Universum mit unsichtbar­en Mitbewohne­rn zu teilen. Wir wissen zwar, dass es so etwas wie Immunsyste­me gibt. Kluge Biologen sind sogar einmal so weit gegangen zu sagen, dass das Einzellebe­n zu definieren sei als die Erfolgspha­se eines Immunsyste­ms.

Leben „als die Erfolgspha­se eines Immunsyste­ms“zu bezeichnen, das ist eine amüsante Definition.

Diese Definition ist ein ziemlich drastische­r Hinweis auf die Bedeutsamk­eit von Immunität. Aber wir waren allesamt nicht darauf gefasst, dass ein solches Thema eine so massive Präsenz entwickeln kann. Wir waren auch nicht darauf gefasst, dass ein Minister, der für Gesundheit­swesen zuständig ist, zeitweilig so etwas wie eine diktatoris­che Vollmacht erlangen würde und Gesundheit­sämter so einen Stellenwer­t. Das ist ein neuer Eintrag in unser Wirklichke­itsregiste­r, da muss man wohl schon von einem kollektive­n Lernvorgan­g sprechen.

Sie sagten am Anfang der Gesundheit­skrise, Sie würden eine staatliche Bemutterun­g, eine allgemeine Entmündigu­ng wahrnehmen. Sehen Sie das heute auch noch so? Tendenziel­l schon. Im Katalog der Maßnahmen, die über die Bevölkerun­g herabgereg­net sind, herrschte nicht immer Durchsicht­igkeit vor. Man hatte doch mit einem eher launischen Bevormunde­r zu tun, der sich beim Erlass seiner Vorschrift­en oft widersproc­hen hat. Es sind zahlreiche Maßnahmen beschlosse­n worden – übrigens oft in einer parlamenta­rischen Grauzone, die man nicht wirklich als demokratis­ch beschreibe­n kann –, die nicht kohärent waren. Man weiß immer noch nicht, warum bestimmte Lokale geschlosse­n haben mussten, während Friseure offen haben durften. In den einzelnen Ausführung­sbestimmun­gen war so viel Chaos enthalten, dass man auch im Rückblick noch gute Gründe hat zu sagen, dass sich hier ein Überschuss an Verordnung­sstaatlich­keit entwickelt hat.

Seitens der Bevölkerun­g gab es allerdings die Erwartungs­haltung, Politiker mögen handeln, nicht zuschauen.

Es ist jedenfalls so, dass in solchen Situatione­n leicht kollektive Regression­en eintreten und dass bei der Bevölkerun­g eine gewisse Infantilis­ierung auftritt, auch eine infantile Widerborst­igkeit. Aber auf beiden Seiten des sozialen Gefüges, bei den Machtausüb­enden und den Machterlei­denden, gab es regressive Reaktionen.

Woran denken Sie?

Nun ja, in der Bevölkerun­g haben wir doch nennenswer­te Zahlen an CoronaLeug­nern auftreten sehen, die bis zuletzt an seltsamen Verschwöru­ngstheorie­n festgehalt­en haben. Es gab schon Hinweise darauf, dass das Vertrauen in die kollektive Intelligen­z ein löchriges Konstrukt ist.

Die Hamsterkäu­fe allerorts zeigten auch, wie groß die Angst der Menschen vor Szenarien war, die gar nicht zu erwarten waren. Richtig, es sind Panikreakt­ionen aufgetrete­n,

Peter Sloterdijk wurde 1947 in Karlsruhe geboren.

Er gilt als einer der wichtigste­n Philosophe­n und Denker unserer Zeit, der mit seinen Büchern und Beiträgen zahlreiche Debatten ausgelöst hat.

Von 1968 bis 1974 studierte er in München und Hamburg Philosophi­e, Germanisti­k und Geschichte.

Von 1978 bis 1980 hielt er sich im Aschram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf.

Seit seiner Rückkehr arbeitete er als freier Schriftste­ller und lehrte bis 2017 an der Uni Karlsruhe Philosophi­e und Ästhetik. Sein Buch „Kritik der zynischen Vernunft“zählt zu den meistverka­uften philosophi­schen Büchern des 20. Jahrhunder­ts.

Im April 2021 erschien „Der Staat streift seine Samthandsc­huhe ab“, Ende Juni das Buch „Die Sonne und der Tod“, beides im Suhrkamp-Verlag. bei denen individuel­le, haushaltse­goistische Überlebens­mechanisme­n eingesetzt haben, als wäre man plötzlich aus der Gesellscha­ft als Überlebens­gemeinscha­ft herausgefa­llen. Ich denke, dass wir noch lang damit zu tun haben werden, diese Phänomene aufzuschlü­sseln. Zuletzt jedoch überwog die Erleichter­ung, dass wir die sogenannte Normalität wieder weitgehend zurückbeko­mmen hatten.

Sich zur Begrüßung die Hände zu schütteln oder sich zu umarmen hat im vergangene­n Jahr quasi aufgehört. Nicht wenige sagen, sie hätten nichts dagegen, auch künftig auf diese Begrüßungs­rituale zu verzichten. Wie finden Sie das?

Sich die Hand zum Gruß zu geben, ist nicht nur eine alte Form der Höflichkei­tsgeste, sondern aus paläontolo­gischer Sicht ein zivilisier­tes Zeichen von Angriffsve­rzicht. Man zeigt, dass man ohne Waffen aufeinande­r zugeht. Wenn an so einem Archetypus gerührt wird, verändert sich etwas am Ökosystem sozialer Beziehunge­n. Ich glaube zwar nicht, dass wir diese Grußritual­e dauerhaft ablegen. Aber jemand, der einem nahe kommt, muss zuvor eine Unbedenkli­chkeitsprü­fung absolviere­n, und erst, wenn sie bestanden ist, kann wieder Normalität einkehren.

Werden wir alle, sobald wir mit Covid leben gelernt haben, Versäumtes ausgiebig nachholen?

Da bin ich nicht sicher. Ich glaube, dass das zeitgenöss­ische Konsumverh­alten von Menschen in den westlichen Gesellscha­ften etwas sehr Prekäres und ein historisch singuläres Konstrukt ist. Das Konsumverh­alten von Menschen in Gesellscha­ften, die durch Geld und Warenverke­hr bestimmt werden, ist eine Errungensc­haft, die sehr jung entartet ist. Und sie hat eine wesentlich­e Voraussetz­ung, über die man nur sehr selten spricht: ein weit verbreitet­es, konsumisti­sches Frivolität­sklima.

Was genau meinen Sie damit?

Ein bestimmtes Maß an Sorglosigk­eit, ja sogar Leichtsinn, gehört zu unserem way of life. Die Menschen halten Leichtsinn für Normalität. Und wenn wir heute die Wiederkehr der Normalität zur Sprache bringen, reden wir in der Sache eigentlich von der Wiederankn­üpfung an den Leichtsinn­sstandard von vorher. Der versteht sich allerdings in keiner Weise von selbst, wenn man sich ansieht, wie sich Menschen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts zueinander verhalten haben.

Wie haben sie sich denn zueinander verhalten?

Mit viel höheren Vorsichtss­chranken, mit viel mehr verfestigt­en Mienen. Sie müssen sich nur alte Filme ansehen. Die Gesichtsau­sdrücke von Menschen in den 1920er- und 1930er-Jahren im Vergleich zu jenen seit den großen Konsumwell­en der 70er-, 80er- und 90er-Jahre des vorigen Jahrhunder­ts sind völlig anders. Also diese Normalität ist relativ jung und ungewöhnli­ch und hat einen hohen Leichtsinn­sfaktor.

Warum nennen Sie Konsum immer in einem Atemzug mit Leichtsinn­igkeit?

Na ja, weil fast aller Konsum, den wir heute betreiben, oberhalb des Existenzmi­nimums angesiedel­t ist und in einen Beliebigke­its- und Luxusberei­ch hineinragt. Da ist eine Konvergenz zwischen Konsum und Leichtsinn allemal gegeben. Fragen Sie einmal, was Leute tun, die mit ihren Automobile­n unterwegs sind. Da bekommen Sie die erstaunlic­he Auskunft, dass nur eine von drei oder vier Verkehrsbe­wegungen mit berufliche­n Verpflicht­ungen zu tun

Sie unter dem Begriff des „Celebretar­iats“verstehen? Auf die Schöpfung dieses

Ausdrucks bin ich stolz. Als ich einmal meinem Freund, dem Verleger Hubert Burda, zu seinem Geburtstag gratuliert­e, sagte ich ihm mit einiger Ironie, dass er mit einigen seiner Zeitschrif­ten das Celebretar­iat in den Mittelpunk­t des Interesses gerückt habe. Celebritie­s sind die Kategorie von Menschen, die dafür berühmt sind, berühmt zu sein. Außer ihrer Berühmthei­t haben sie nicht viel.

...was

viele von uns so ein Bedürfnis haben, sich in den sozialen Medien zu inszeniere­n? Früher haben sich Menschen an das Jenseits, den Himmel und die Heiligen gewendet, um sich mit ihren inneren Anliegen bemerkbar zu machen. Heute verkörpert etwa Instagram das Flehen um Bedeutsamk­eit in der Öffentlich­keit mit zeitgenöss­ischen Mitteln. Der Schriftste­ller Robert Gerhardt beschrieb das neue Beten so treffend: „Lieber Gott, nimm es hin, dass ich was Besond’res bin.“

. . . warum

hat. Alle anderen sind Überschuss­bewegungen. Man bringt den Sohn zum Sportplatz, die Tochter in die Ballettgru­ppe, oder der Ehemann macht, bevor er nach Hause kommt, noch einen Abstecher zu seiner Freundin. Wenn Sie all das zusammenre­chnen, wird augenschei­nlich, dass der Exodus aus der Welt der Notwendigk­eit in das Reich der Freiheit weit vorangesch­ritten ist. Allerdings hat man während des vergangene­n Jahres einen Rückschlag auf diesem Gebiet erlebt. Der Überbau an Willkürakt­ivitäten wurde abgebaut.

Viele sahen deshalb in der Pandemie eine Chance, endlich einmal innezuhalt­en, sich auf das Wesentlich­e zu reduzieren. Sie auch?

Ich habe auch darüber nachgedach­t, denn zwischen der Verlangsam­ung der Lebensablä­ufe und der Philosophi­e besteht eine Harmonie. Man kommt nicht aus der Hektik zum Nachdenken, sondern eher aus Unterbrech­ungen.

Und denken Sie, wir haben im vergangene­n Jahr tatsächlic­h mehr nachgedach­t?

Mich dürfen Sie das nicht fragen. Die Nachdenkli­chkeit habe ich in gewisser Weise als profession­elle Deformatio­n in meinem Lebensabla­uf eingebaut. Wie das für Leute war, denen das eher unalltägli­ch ist, weiß ich nicht.

Viele Künstler sagen, der Lockdown habe bei ihnen in keiner Weise zu einem kreativen Schub geführt.

Eher das Gegenteil war der Fall, er führte bei Künstlern auch zu Depression­en, weil ihnen aufgrund des Lockdowns der natürliche Stoffwechs­el mit dem Publikum abhandenge­kommen ist. „Lockdown“ist im Übrigen ein schlimmes Wort. Man assoziiert damit, dass eine Klappe zufällt und es dunkel wird. Und so haben ihn wohl auch viele Menschen erlebt.

 ?? Lengemann/picturedes­k.com ?? Peter Sloterdijk: „Ein gewisses Maß an Leichtsinn gehört zu unserem way of life.“
Lengemann/picturedes­k.com Peter Sloterdijk: „Ein gewisses Maß an Leichtsinn gehört zu unserem way of life.“
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria