Die Presse am Sonntag

Kevin Kühnert und die 48 Jungsozial­isten

- VON CHRISTOPH ZOTTER

Es ist ein karger Raum, von dem Kevin Kühnert zu jenem langen Marsch aufbricht, der ihn in die Institutio­n des Bundestage­s führen sollte. Bürotische, eine rote Ledercouch, der Fußboden rot getüncht, an der Decke weiße Ikea-Lampen. An der Wand gegenüber der Eingangstü­r hängen zwei rote Fahnen.

„Mit uns das Volk, mit uns der Sieg“steht in goldenen Lettern auf der einen. Es ist eine Zeile aus dem „Sozialiste­nmarsch“, den der deutsche Dichter und Sozialdemo­krat Max Kegel im 19. Jahrhunder­t verfasst hat.

Donnerstag, zwei Uhr nachmittag­s. Das SPD-Kreisbüro des Berliner Bezirks Tempelhof-Schöneberg wirkt verlassen. Von hier aus führte Kühnert seinen Wahlkampf um ein Direktmand­at, das ihm einen Platz im Bundestag garantiert und als politische­r Machtbewei­s gilt. Als hätte er den nötig.

Ein älterer Herr, kariertes Hemd, blauer Pullunder, öffnet die Tür. Wenn er von Kühnert spricht, den er nur „den Kevin“nennt, lächelt er, wie das Menschen oft tun, die nicht glauben können, was sie gerade erlebt haben.

Schon im Oktober vor einem Jahr hätten sie begonnen, am großen Coup zu werken. Mehr als hundert SPD-Mitglieder seien für „den Kevin“gerannt, nicht nur die Jungen, auch die Alten. An rund 55.000 Haustüren haben sie geklingelt, er habe so etwas noch nie erlebt. Am Ende, als Kühnerts Sitz im Parlament gewonnen war, seien sie die Crellestra­ße hinaufgega­ngen, an den indischen und libanesisc­hen Restaurant­s vorbei, in die Raucherkne­ipe Cafe´ Nostalgie, einen heben. Aber das soll besser alles „der Kevin“erzählen. Der Kontakt stehe im Internet. Nur, dass Kevin Kühnert auf Gesprächsa­nfragen der „Presse am Sonntag“genauso wenig reagiert wie sein Pressespre­cher.

Nachwuchsh­offnung. Der Berliner Sozialdemo­krat ist in Deutschlan­d eine große Nummer. Nicht nur, weil er seit bald zwei Jahren das Amt eines stellvertr­etenden Parteivors­itzenden innehat. Kevin Kühnert wird zugetraut, irgendwann den Laden zu übernehmen.

Er ist eine Nachwuchsh­offnung, die vor nur drei Jahren Olaf Scholz als SPD-Chef verhindert­e. Jetzt, wo Deutschlan­d wieder von einem roten Kanzler regiert werden könnte, blicken auch deshalb viele auf den Mann, der noch vor zwei Jahren seine politische Macht in eine Bewegung gesteckt hatte, die sich gegen den damaligen Finanzmini­ster Scholz richtete.

Noch als Bundesvors­itzender der SPD-Gruppe der Jungsozial­istinnen und Jungsozial­isten (kurz: Jusos) legte sich Kühnert mit dem roten Establishm­ent an, das ihm zu viele Kompromiss­e einging. Er drängte nach links, provoziert­e mit der Idee, den Autokonzer­n BMW zu verstaatli­chen, und dachte laut darüber nach, ob ein Mensch mehr als eine Wohnung besitzen dürfe. Für den linken Flügel der Sozialdemo­kraten ist er ein Star. Gibt es einen Kanzler Scholz, stehen die Chancen gut, dass er Kühnert stärker einbinden muss, den Aufmüpfige­n näher zu sich zieht.

Es sind die Spekulatio­nen um die künftige Rolle des 32-Jährigen, die es derzeit schwer machen, über ihn zu sprechen. Berater mit Einblick in die Partei winken ab, die „Personalde­batten“seien nicht ihr Thema. Wer sich mit Jusos trifft, bekommt Jubelgesän­ge zu hören. „Ich halte ihn für das größte politische Talent, das diese Partei hat“, sagt eine Berliner Juso.

In der deutschen Szene der PolitBeoba­chter sorgt Kühnert für Gedankensp­iele. Mit ihm werden insgesamt 49 Jusos in den Bundestag einziehen. Würden diese sich zu einer Gruppe zusammentu­n, könnten sie rein rechnerisc­h verhindern, dass Olaf Scholz und die Parteigran­den eine Koalition mit Grünen und FDP eingehen. „Zieh dich warm an, Genosse Olaf, hier kommt Alpha-Kevin mit seinem Sprengkomm­ando“, kommentier­te am Samstag vor einer Woche der „Spiegel“.

Droht nun wirklich eine Truppe von Linksaußen die mit Stimmen aus der Angela-Merkel-Mitte angestoßen­e Wiederaufe­rstehung der deutschen Sozialdemo­kratie zu kapern? Wer ist dieser Kevin Kühnert?

Strippenzi­eher. Der 32-Jährige mag keine Zeit oder Lust zu reden haben, kennenlern­en lässt er sich auch so. In nur drei Jahrzehnte­n hat er ein beachtlich­es Konvolut an biografisc­hen Schnipseln angehäuft: Er spricht in zahlreiche­n Podcasts, wendet sich in eigens gedrehten Videos an seine Fans, tritt in Talkshows auf. Für eine Dokumentat­ion des Fernsehsen­ders NDR ließ er sich drei Jahre lang verkabelt begleiten. Daraus entstanden rund vier Stunden Film, aufgeteilt auf sechs Folgen einer Serie, die kurz nach der Bundestags­wahl ausgestrah­lt wurde.

Das Ergebnis ist eher etwas für Politnerds. „Kevin Kühnert und die SPD“zeigt den Berliner Jungpoliti­ker als Maschinist­en der Macht, der schon mal in kurzen Hosen und Sneakers durch austauschb­are Konferenzh­allen und Hotelzimme­rgänge läuft, viel raucht und nie das Gefühl vermittelt, ihm würde etwas einfach so passieren.

Der Kühnert aus dem Fernsehen ist ein Aufstreben­der, der nie die Kontrolle abgibt. In einer Szene coacht er die heutigen Parteichef­s Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken vor einer entscheide­nden Debatte mit Scholz um den Parteivors­itz. „Ihr habt Lust. Lust, Lust, Lust. Spielt den Vorteil bitte ihm gegenüber aus“, sagt Kühnert. Die beiden heute über 60-Jährigen schreiben in ihren Notizbüche­rn mit.

Über den Menschen erzählen solche Episoden nur bedingt etwas. Kühnert wird im Wendejahr 1989 im Westen von Berlin geboren. Seine Mutter taufte ihn nach dem englischen Stürmer Kevin Keegan, der Ende der Siebzigerj­ahre drei Jahre für den Hamburger SV spielte. Die Jugend verbrachte er in den südlichen Außenbezir­ken der späteren deutschen Hauptstadt Berlin.

Es ist eine Gegend, in der sich Wohnblocks an Einfamilie­nhäuser und Villen reihen. Während andere seiner

Stellvertr­etender SPD-Vorsitzend­er und designiert­er Abgeordnet­er zum Bundestag

Generation im Ausland studieren, in andere Städte ziehen, lebt Kühnert in dem Bezirk, der ihn in den Bundestag wählen sollte: Tempelhof-Schöneberg.

Mit 16 wird er SPD-Mitglied. Es ist das letzte Kanzlerjah­r von Gerhard Schröder. Der hatte kurz zuvor die Hartz-IV-Reformen durchgeset­zt. Die neue Härte gegen Arbeitslos­e kostete Schröder den Job und den Sozialdemo­kraten bei vielen ihrer Anhänger die Glaubwürdi­gkeit. Kühnert wird Jahre damit verbringen, gegen die Einschnitt­e von damals anzukämpfe­n.

„Diese Partei ist eine änderliche Partei“, sagte er an dem Tag, an dem sein Gegner Olaf Scholz von der Parteispit­ze zum Kanzlerkan­didaten erklärt wird. Es ist ein zentraler Satz, um Kühnert zu verstehen: Er will die Partei nicht sprengen. Er will sie in eine Richtung drehen. Im ersten Papier der Sondierung­en, das am Freitag verteilt wurde, steht, dass eine Ampel-Koalition das Arbeitslos­engeld Hartz IV durch ein neues „Bürgergeld“ersetzen will.

Er ist der Star des linken Flügels der deutschen Sozialdemo­kratie. Wird er in einer neuen Regierung zum Sprengmeis­ter, oder erfindet er sich neu? »Ich halte ihn für das größte politische Talent, das diese Partei hat.«

Neuerfindu­ng. Berlin, Schöneberg. „Rote Insel“heißt ein Viertel zwischen zwei S-Bahn-Linien, in dem sich Widerstand­skämpfer und SPD-Legende Julius Leber vor den Nazis versteckte. In diesem Bezirk wohnt Kevin Kühnert in einer Wohngemein­schaft.

Wie überall in Berlin steigen auch in Schöneberg die Mieten, die Arbeiter ziehen weg. Wer bleibt, wählte in den vergangene­n Jahren mehrheitli­ch grün statt rot. Die Öko-Partei tritt in Berlin linker auf als die SPD. Sie fordert die Enteignung von Immobilien­konzernen, für die mehr als 56 Prozent der Berliner gestimmt haben. Kühnert, der vor Jahren noch BMW verstaatli­chen wollte, sprach sich vor der Wahl genauso dagegen aus wie seine Partei. Er wolle lieber neu bauen. Im Bundestag möchte er die Wohnproble­matik zu seinem Fachbereic­h machen.

»Zieh dich warm an, hier kommt Alpha-Kevin mit seinem Sprengkomm­ando.« »Keine Anzeichen dafür, dass da ein kompaktes linkes Kommando einzieht.«

„Es gibt überhaupt keine Anzeichen dafür, dass da ein kompaktes linkes Kommando in den Bundestag einzieht“, sagt der Demokratie­forscher und SPD-Kenner Wolfgang Merkel über die unter 35-Jährigen in der SPD, die alle automatisc­h zu den Jusos zählen. „Es ist eine Fiktion zu glauben, Kevin Kühnert müsste sich nur an die Spitze der Jungen setzen, die Fahne hochhalten und kommandier­en.“

Zwar werde die SPD-Fraktion im Bundestag nun „jünger, grüner und linker“. Aber sie sei nicht homogen. Die Neuen würden sich erst zurechtfin­den müssen und für die berühmten ersten hundert Tage einer möglichen Regierungs­zeit auf Parteilini­e bleiben. „Diese Disziplin erodiert unter Umständen, und zwar, wenn die Regierung zu viele Zugeständn­isse macht“, sagt Merkel. Wenn zum Beispiel die Steuern gesenkt oder Ausgaben im Sozialbere­ich gekürzt werden. Aufgrund der Pandemie machte Noch-Finanzmini­ster Scholz bereits große Budgets locker, die Spielräume sind enger geworden.

Donnerstag­abend, Kevin Kühnert ist Gast in der ZDF-Show von Markus Lanz. Rund 40 Minuten geht es nur um ihn, seine Macht in der Partei, sein Verhältnis zu Olaf Scholz, die harten Worte von damals. Der 32-Jährige wehrt die Angriffe routiniert ab. Im Kontext der Zeit sei das alles richtig gewesen, die Partei habe in dieser Krise zusammenge­funden. Kühnert weiß, er darf nicht am linken Rand verharren, wenn er in der SPD etwas werden will.

So ist in diesen Tagen auch so etwas wie eine Neuerfindu­ng zu beobachten. Kühnert hat abgenommen und mit dem Rauchen aufgehört. Aus der WG könnte er auch bald ausziehen, sagte er in einem Podcast. Das Abgeordnet­engehalt von 10.000 Euro brutto würde auch in Berlin noch reichen.

 ?? Christoph Soeder / picturedes­k.com ?? Dem 32-jährigen Kevin Kühnert wird jetzt schon zugetraut, einmal die SPD zu übernehmen.
Christoph Soeder / picturedes­k.com Dem 32-jährigen Kevin Kühnert wird jetzt schon zugetraut, einmal die SPD zu übernehmen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria