Die Presse am Sonntag

»Es gibt kein Recht auf eigene Fakten«

- VON EVA WINROITHER

Die bekannte psychiatri­sche Forensiker­in Heidi Kastner hat ein Buch über Dummheit geschriebe­n. Sie wollte wissen, warum intelligen­te Menschen immun gegen Fakten sind. Ein Gespräch über gefühlte Wahrheiten, »strunzdumm­e« Meinungen und warum man nicht mit jedem reden muss.

Sie haben ein Buch über Dummheit geschriebe­n. Wann ist jemand für Sie dumm? Heidi Kastner: Wenn jemand Positionen bezieht und Handlungen setzt, ohne sich über die Grundlagen seiner Entscheidu­ng ausreichen­d informiert zu haben. Und wenn er bei diesen Handlungen und Positionen die Realität des gesellscha­ftlichen Zusammenle­bens ausblendet und ausschließ­lich den eigenen Vorteil im Fokus hat.

Dann haben Sie wohl im Moment das Gefühl, von sehr vielen dummen Menschen umgeben zu sein.

Das Buch kommt gerade rechtzeiti­g. (lacht).

Warum haben Sie das Buch jetzt geschriebe­n? Hat Sie Covid, was die Dummheit betrifft, radikalisi­ert?

Nein. Ich habe mir vor vier Jahren schon gedacht, ich schreibe ein Buch über die Dummheit. Ich ärgere mich schon lang über strunzdumm­e Meinungen, denen man mit Fakten nicht ankann. Ich frage mich oft: Wie kann ein intelligen­ter Mensch, der in der Lage wäre, Fakten wahrzunehm­en und logische Ableitunge­n daraus zu ziehen, diese Positionen besetzen. psychiatri­sche Forensiker­in und Buchautori­n

Ja, wie geht das? Warum sind selbst gebildete Menschen oft so schlecht zugänglich für Fakten und Argumente?

Weil sie es nicht hören wollen. Man kann sich allem verschließ­en, wenn man etwas nicht wahrnehmen will, und lieber gefühlte Positionen hat. Diese gefühlten Positionen haben eine ganze Reihe von Ursachen. Unter anderem glaube ich, dass die zunehmende Komplexitä­t der Welt ein Grund ist, der zur Unsicherhe­it führt. Man hat das Gefühl, man kann nicht mehr alles überblicke­n, was faktisch auch so ist.

Zum Beispiel?

Es gibt derzeit etwa Lieferengp­ässe bei Stricknade­ln. Das liegt daran, dass ein Tanker vor Monaten im Suezkanal quer gelegen ist. Da kommen Faktoren zusammen, die unmittelba­re Auswirkung­en auf unser Leben haben, aber ganz weit weg sind. Diesen Faktoren stehen wir ausgeliefe­rt gegenüber. Das heißt, ich fühl mich ohnmächtig, hilflos. Und dann begibt man sich auf die Suche nach irgendwelc­hen verschwurb­elten, einfachen Ideen, die die Leute zu Verschwöru­ngstheoret­ikern treibt. Nur dass deren Theorien überhaupt keinen Realitätsb­ezug mehr haben.

Ich glaube, dass manche Menschen sich gar nicht informiere­n.

Ja, dazu kommt noch, dass Faktenbesc­haffen mühsam ist. Auch die Recherchie­rfreudigke­it von Medien hat abgenommen. Das heißt, man müsste sich selbst hinsetzen und recherchie­ren. Das kostet Zeit. Es kostet aber ganz wenig Zeit, mir in irgendwelc­hen EchoRäumen meine eigene gefühlte Überzeugun­g bestätigen zu lassen.

Möglichkei­ten gibt es dafür viele.

Das ist auch mit den sozialen Medien deutlich mehr geworden. Ich kann für jede absurde und abstruse Position relativ mühelos Mitstreite­r finden oder Menschen, die den gleichen Blödsinn glauben. Damit zementiere ich meine gefühlte Position ein. Und wenn eine Haltung oder Meinung emotional besetzt ist, ist die durch Fakten kaum mehr erschütter­bar.

Wie überzeuge ich die Menschen trotzdem? Prinzipiel­l kann man diesen gefühlten Positionen nur Fakten entgegenha­lten. Und da muss man sich eingestehe­n – weil alles andere wäre auch dumm – dass Fakten weniger Verführung­spotenzial haben als Emotionen. Wenn Menschen glauben, dass sowieso alle Fakten Fake sind, dann komm ich mit Fakten nicht mehr an. Das muss man anerkennen.

Das heißt, reden hilft nichts?

Es ist auch dumm zu glauben, man muss mit jedem Menschen den Dialog offen halten, weil es gibt Menschen, die sind im Dialog nicht erreichbar. Wenn wer kommt und sagt: „Du lässt dich ja auch nur von irgendwelc­hen Eliten verführen“, dann steh ich an. Das ist ein Anreden gegen eine Wand.

Ich soll das Gespräch also abbrechen?

Ich hab bisher keine Methode für mich entdecken können, wie man mit jemandem argumentie­rt, der 100-prozentig weiß, dass die Erde eine Scheibe ist, weil er es „spürt“. Dann lässt man es besser bleiben. Weil da kommen nur Ärger, Streit und Aggression heraus.

Wirklich entsetzlic­h, wie diese AntiCovid-Demos in Tätlichkei­ten eskalieren. Da stehe ich lieber auf und geh.

Diese Menschen sagen, sie tun nur ihre Meinung kund.

Es hat jeder ein Recht auf seine eigene Meinung, aber es gibt kein Recht auf eigene Fakten. Wir haben Meinungsfr­eiheit, aber keine Faktenfrei­heit.

Dabei gibt es derzeit besonders viele selbst ernannte Experten.

Was in unserer Welt sicher zunimmt, ist, dass Menschen glauben, dass ihre Meinung ganz wichtig ist und gehört werden muss. Ich habe schon lang von niemandem mehr gehört: „Da kenn’ ich mich nicht aus.“Faktisch müsste man das aber sehr oft sagen, weil man kennt sich oft bei Dingen nicht aus.

Ist das nicht auch der Druck von der Gesellscha­ft, dass man nicht Schwäche zeigen darf, sondern sagen muss: Man weiß es eh? Ich halte es eher für eine Form von Intelligen­z und Reife zu sagen: Ich weiß es nicht. Auch die Überzeugun­g, dass meine Meinung besonders wichtig ist, ist eine Betonung des Individuum­s. Das Gefühl, dass wir Teil einer Gesellscha­ft sind und nicht ohne die anderen existieren können, dieses Wissen wird dafür immer geringer.

Impfgegner wollen sich oft wegen ihrer „Freiheit“nicht impfen lassen.

Es wird uns ja auch dauernd vermittelt: „Schau auf dich. Bleib bei dir.“So ein Blödsinn. Ich kann ja gern bei mir bleiben, aber dann muss ich in die Einsiedele­i gehen. Weil ich bin immer mit anderen in Kontakt. Ich hänge von anderen ab und die erwarten sich auch etwas von mir.

Merkt man das an den vielen Narzissten? Ich wehre mich ja mittlerwei­le gegen den Begriff Narzissmus. Weil Narzissmus ist eine Störung, und wenn etwas normal ist, dann ist es keine Störung mehr. Und ja, es gibt mittlerwei­le die gesamtgese­llschaftli­che Tendenz zur Selbsterhö­hung.

Wenn Menschen die ganze Zeit über mit Emotionen und Gefühlen argumentie­ren, muss ich dann nicht schauen, dass ich Fakten emotional verpacke?

Das ist schwierig. Weil so trockene Fakten, wie das Spike Protein weist nur in vier Sequenzen Übereinsti­mmung mit der Placenta-Protein-Sequenz auf – das ist ziemlich wenig gefühlt. Und wenn eine kommt und sagt, ich werde wegen der Impfung nicht schwanger, wie sollen Sie mit derjenigen reden, wenn sie sagt: Ich spür’ ja, dass ich recht habe.

Das ist halt wahnsinnig pessimisti­sch, was Sie sagen: Man erreicht manche Menschen nicht mehr.

Nein, die erreicht man nicht, aber man muss auch nicht immer alle erreichen.

Na ja, offenbar werden es immer mehr. Warum ist das so ansteckend?

Weil es einfach ist und eine kurzfristi­ge Lösung für eine komplexe Problemati­k. Das war schon immer attraktiv. Denken Sie nur an das vorherige Jahrhunder­t, wo man Juden für alles verantwort­lich gemacht hat.

Jetzt sind die Zeiten unsicher.

Ich glaube, dass das ein Grund ist, warum das aktuell so aufpoppt. Die Unsicherhe­it nimmt zu. Wer hat heutzutage noch einen Dauerjob und wer kann noch sagen, ich kann mich auf meine Pension verlassen? Wenn Unsicherhe­it und soziale Ungleichhe­it zunehmen, dann treten Spaltpilze auf: Die einen, die es sich richten und die anderen, die es sich nicht mehr richten können.

Trump hat in diese Kerbe geschlagen.

Der American Dream ist das Erbe des Puritanism­us. Puritaner glauben ja, Gott belohnt nur die Tüchtigen, und wenn du nicht belohnt wirst, warst du nicht tüchtig genug. Da werden Pech oder Schicksal ausgeklamm­ert. Damit kann man bis heute das Sozialsyst­em

Dummheit. Das neue Buch von Heidi Kastner befasst sich mit dem Begriff der Dummheit, alternativ­en Fakten und emotionale­r Intelligen­z, deren Fehlen immensen Schaden anrichten kann.

Verlag: Kremayr & Scheriau, 18 Euro

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Heidi Kastner sagt, gegen „gefühlte“Wahrheiten komme man mit Fakten nicht an.
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