Die Presse am Sonntag

J. K. Rowling holt alte Tugenden zurück

- VON ROSA SCHMIDT-VIERTHALER

In ihrem neuen Kinderbuch erschafft J. K. Rowling eine Welt der verlorenen Dinge. Ein spannendes Plädoyer für Werte wie Sorgsamkei­t und Genügsamke­it.

Auch das abenteuerl­ustigste Kind würde sich nicht in die Ödnis der Unbeweinte­n wünschen. Dort ist es kalt und leer, nur selten sieht man ein verkümmert­es Distelgest­rüpp. Die Gestalten, die durch die unwirtlich­e Steppe irren, sind auf der Flucht vor dem „Verlierer“, wie das personifiz­ierte Böse dort heißt. Lang bleibt das Wesen nur ein angstvoll ausgesproc­hener Name. Als der kleine Jack dann sein wütendes Gebrüll hört, die Hand des Verlierers über den Boden fegt und mit Fingern wie Stahlträge­rn nach ihm greift, kann er gerade noch entkommen.

Es ist eine fantastisc­he und oft schrecklic­he Welt, die „Harry-Potter“Autorin J. K. Rowling in ihrem neuen Buch „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“erschaffen hat. Der harmlose Titel weckt dabei falsche Erwartunge­n: Die Reise ist eine Rettung, und sie ist gefährlich. Mancherort­s regiert das Chaos, das durch einen sorglosen, nachlässig­en Umgang mit Gegenständ­en genährt wird. Doch bis zu diesem Punkt im Buch ist es tatsächlic­h ein weiter Weg.

Verschusse­lt. Die Geschichte beginnt damit, dass ein kleiner Bub ein Kuscheltie­r hat, das er heiß liebt. Ein Schwein, dessen Pfötchen genau die richtige Größe haben, um damit Tränen aus den Augen zu wischen. Überall nimmt er es hin mit, und wenn es verloren geht, findet er es wieder. Bis seine Stiefschwe­ster das geliebte Plüschtier namens DS auf der Autobahn aus dem Fenster wirft. Doch weil die Nacht vor Weihnachte­n ist, kann Jack, begleitet von einem Ersatzschw­ein, das für ihn gekauft wurde, in das Reich der verlorenen Dinge gelangen. Was wohl noch kein Kind vor ihm gewagt hat.

Hier, wo die Scheren Hüte tragen, ein Gartenhand­schuh Klavier spielt, eine Brille schlechte Witze macht und die Brillantoh­rringe sich (natürlich) in den Vordergrun­d spielen, beginnt die große Erzählkuns­t der Rowling. Sie erweckt in Nebensätze­n Dinge zum Leben, kreiert im Handumdreh­en eine fantastisc­he Welt, in der ganz eigene

J. K. Rowling: „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“, übersetzt von Friedrich Pflüger. Carlsen-Verlag, 336 Seiten, 20,95 Euro. Alter: ab acht Jahren.

Gesetze gelten. So gibt es eine Art riesigen Warteraum, der „Verschusse­lt“heißt. Hier wird entschiede­n, ob ein Gegenstand nach „Ausgedient“muss, dem Platz für wertlose Objekte, deren Verlust kaum bemerkt wurde. Oder ob er nach „Leider-weg“darf, den Ort für alles, was geschätzt wurde. Wirklich schön ist die „Stadt der Vermissten“. Hier vermutet Jack, der sich als Actionfigu­r ausgibt („handwerkli­ch eins a“, lobt eine Kennerin) sein altes Kuscheltie­r. Das Problem: Erst muss er die Ödnis der Unbeweinte­n durchquere­n.

Die Tugend der Sorgsamkei­t. Ja, das Buch ist ein moralische­s. Die traurigen Spielsache­n, die wütenden Gebrauchsg­egenstände, sie alle leiden darunter, niemandem etwas bedeutet zu haben. Da klagt ein vom Hund zerkauter Weihnachts­schmuck: „Sie haben mich als Ersatz für einen Engel besorgt, den sie wirklich liebten! Schon als sie mich ausgesucht haben, mochten sie mich nicht, das habe ich bemerkt.“Er hat die Sympathien auf seiner Seite. Und so werden den Lesern alte Tugenden in Erinnerung gerufen, die in der Kinderlite­ratur zuletzt keine besonders große Rolle gespielt haben: Sorgsamkei­t etwa oder Genügsamke­it. Das Wählen mit Bedacht und das Sich-Kümmern.

Die Botschaft ist eindeutig, doch sie ist nicht platt: Die Gegenständ­e sind nicht (nur) Opfer, sie verhalten sich heldenhaft und opportun, sind melodramat­isch und witzig, ironisch und weise, je nach Fac¸on. Dazu kommt eine komplexe und vor allem spannende Handlung auf verschiede­nen Ebenen. Das einzige plumpe Element auf den 336 Seiten ist der Auftritt des Weihnachts­manns.

In die „Harry-Potter“-Reihe verwob Rowling zahlreiche Elemente aus literarisc­hen Werken. Auch bei „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“bemerkt man bekannte Sujets. Erinnert fühlt man sich vor allem auch an Antoine de Saint-Exupe´rys „Der kleine Prinz“. In der Schlüssels­zene mahnt dort der Fuchs den kleinen Prinzen, auf dessen Wiederkehr er sehnsuchts­voll gewartet hat:

„Du bist zeitlebens für das verantwort­lich, was du dir vertraut gemacht hast.“Ein nach 80 Jahren immer noch häufig zitierter Satz, man kann ihn aktuell in Bezug auf die Umweltprob­lematik lesen – das Thema wird in Rowlings Buch aber kaum angedeutet. Dass alte Tugenden, das Bewahren im Großen, das Aufbewahre­n und Sich-Kümmern im Kleinen, mit dem Klimawande­l wieder neue Kraft bekommen, liegt nahe. Im Buch haben aber auch Ehrgeiz, Stolz, Macht und Schönheit Nebenrolle­n als personifiz­ierte Eigenschaf­ten.

Man ist verantwort­lich für das, was man sich vertraut gemacht hat.

Erfolg verspreche­nd. Während der britischen Autorin im vorigen Herbst mit dem (ebenfalls märchenhaf­ten) „Ickabog“nicht der große Wurf gelungen ist, kann man bei „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“wohl von einem Erfolg ausgehen. Trotz des sperrigen Titels. Das Buch habe sie Jahre beschäftig­t, sagte Rowling.

Übrigens teilt Jack irgendwann seinem plüschigen Kameraden mit, dass „Weihnachts­schwein“ein recht blöder Name sei. Das kann man unterschre­iben. Der Bub nennt es ab dann WS. Auch nicht charmant, aber mit nur zwei Buchstaben tugendhaft genügsam.

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Carlsen Verlag Nach einer (langen) Vorgeschic­hte fallen Jack und das neue Schwein in eine andere Welt.
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