Wie eine bürgerliche Gesellschaft entsteht
Das bürgerliche Zeitalter Frankreichs im 19. Jahrhundert gehört zu einem zentralen Bereich der Kulturgeschichte Europas. Ein neues Buch schildert nicht nur den Glanz von Paris, Literatur, Malerei und Boh`eme, sondern auch die Dissonanzen der populären Epoche.
Ein schwacher Staat ist auch keine Lösung – das zeigte die Pandemie. Plötzlich war seine Allgegenwart gefragt. Der Staat steht in der Pflicht, hieß es. Doch nicht die ganze Bevölkerung trug die Eingriffe in die persönliche Freiheit mit. Es ist das alte Problem des bürgerlichen Gesellschaftsmodells: Wie weit darf die Einzäunung der Freiheit gehen?
Gerade recht kommt da das Buch des Wiener Historikers Thomas Hellmuth über die bürgerliche Gesellschaft im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Denn hier kam die Problematik, wie man als Staat ein für den Bürger erträgliches Korsett schnürt, zum Vorschein. Ausgangspunkt waren die Ideen der Französischen Revolution. Einer, der selbst große Probleme mit staatlicher Verfolgung hatte, der deutsche Dichter Georg Büchner, hat das in seinem Drama „Dantons Tod“von 1835 aufgegriffen. Bei Büchner sagt der Revolutionär Camille Desmoulins: Der Staat sollte sich wie ein „durchsichtiges Gewand“um den Bürger legen, zwar dicht, aber ohne ihn zu schnüren, Muskeln, Adern und Sehnen müssten sich darin abdrücken können: „Die Gestalt mag nun schön oder hässlich sein, sie hat einmal das Recht zu sein, wie sie ist; wir sind nicht berechtigt, ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden.“
Wertekatalog. Der Staat als maßgeschneidertes „Röcklein“, das einem nicht den Atem abschnürt – das ist zweifellos ein schönes Bild für die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft. In Büchners Drama schlägt der Idealzustand um in die Unterdrückung des Individuums durch die jakobinische Tyrannei: Die Freiheit des Bürgers erstickt. Symbol dafür wurde die auf der Pariser Place de la Re´volution aufgestellte Guillotine. Nach diesem „gesellschaftlichen Bigbang“des 18. Jahrhunderts, der Aufklärung und der Revolution, so Thomas Hellmuth, setzte sich ein bürgerlicher Werte- und Normenkatalog durch, ein erfolgreicher gesellschaftlicher und kultureller Kosmos, der alle Bereiche des Lebens umfasste und auch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu vereinen suchte. Einem neuen Menschen sollte zum Durchbruch verholfen werden.
Thomas Hellmuth „Frankreich im 19. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte.“
Böhlau Verlag
382 Seiten, 47 Euro
Der Wiener Historiker fasst den Begriff Kulturgeschichte sehr weit, er durchleuchtet nicht nur literarische und künstlerische, sondern auch politische Strömungen und die Struktur der ländlichen
Gesellschaft bis hin zu den Ritualen bei Tisch. Ein Einblick in ein Zeitalter, komplex und anspruchsvoll.
Damit sind wir im Frankreich des bürgerlichen 19. Jahrhunderts angekommen, das das anspruchsvolle Buch vor uns ausbreitet. Wir kennen die prunkvollen Boulevards in Paris, die Weltausstellungen, den Eiffelturm, sie sind alle Symbole bürgerlicher Fortschrittseuphorie. In der Kunst öffnet sich die biedere Bürgerlichkeit auch hin zu Grenzüberschreitungen, Ausschweifung und Exzess, in den Kabaretts und Tanzlokalen des Montmartre, im Absinthrausch, der Prostitution. Es war eine Welt, die ständig in Bewegung und doch stabil war. Ermöglicht wurde das, weil die Angehörigen dieser bürgerlichen Gesellschaft durch diverse „Trainingslager“zugerichtet wurden, so eine der Thesen des Buchs. Eines davon war nach Thomas Hellmuth das bürgerliche Esszimmer. Das Verhalten dort gilt als Einübung in den bürgerlichen Normen- und Wertekatalog.
Der Staat als »Röcklein«, das sich den Gliedern anpasst und nicht den Atem einschnürt.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde der alte „Service a` la franc¸aise“abgelöst. Hier ging es recht ungeordnet zu, die drei Gänge des Gerichts kamen nicht einzeln hintereinander, sondern alle auf einmal auf den Tisch. Jeder griff gemäß seines Appetits zu, Arme kreuzten sich über der Tafel, der individuelle Spielraum war eingegrenzt. Anders beim „Service a` la russe“, das nun in Mode kam. Die Gänge wurden nun hintereinander serviert, Koch oder Hausherr tranchierten das Fleisch auf einem eigenen Tischchen neben der Tafel, die Portionierung verhinderte das Gerangel. Es war ein Akt, der Konzentration und Anmut vereinigte.
Die Tischregeln der bürgerlichen Festtafel gaben einen Verhaltensrahmen vor, der Freiheit und Gleichheit ermöglichte. Die Speisen waren gerechter aufgeteilt, die Gesellschaft durch kargere Dekorationen weniger abgelenkt, es reichte ein weißes Tischtuch. Die Pausen ermöglichten gepflegte Unterhaltung, einen offenen Diskurs über Politik, Kunst und Kultur. Das Mahl wurde zum lehrhaften „spectacle“,
das die ideale bürgerliche Gesellschaft darstellte. Die Gesprächskultur musste erlernt werden, nicht nur beim Mahl, sondern auch in den Salons, Cafe´ s, Restaurants und Vereinen.
Es gelang nicht immer, das Regelkorsett dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen, es hinkte manchmal hinterher und versäumte die Anpassung, erwies sich als zu eng geschneidert. Notwendig für die gesellschaftliche Weiterentwicklung war daher die Kritik, vor allem aufseiten der Künstler. Die Analyse der kunstpolitischen Auseinandersetzungen ist sicherlich eine der Stärken des Buches. Einer der Widersprüche fand sich auch im Geschlechterverhältnis, die Frauen waren in ihrer Rolle eingeengt, großzügige Zugeständnisse in sexueller Hinsicht gab es nur für den Mann.