Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

„Liquidieru­ng des Privaten“. Chat-Leaks braucht es für eine effiziente Strafverfo­lgung nicht. Warum spricht niemand laut über den Schaden, den sie am Rechtsstaa­t anrichten?

Das Recht auf Privatsphä­re ist elementar. Milan Kundera, Opfer des Kommunismu­s, lässt im Roman „Die unerträgli­che Leichtigke­it des Seins“die Protagonis­tin Sabina sinnieren: „Wer seine Intimität verliert, der hat alles verloren. Und wer freiwillig darauf verzichtet, der ist ein Monstrum.“Und Teresa, deren schrecklic­he Mutter einst „der lachenden Familie aus ihrem Tagebuch vorlas“, wendet sogar den stärksten Begriff darauf an: „Wenn ein Privatgesp­räch bei einem Glas Wein öffentlich im Radio gesendet wird, was heißt das anderes, als dass die Welt sich in ein Konzentrat­ionslager verwandelt hat?“Denn „Konzentrat­ionslager bedeutet: Liquidieru­ng des Privaten.“

Die Wortwahl mag zu drastisch sein. Aber mich hat als einfachen Bürger an den innenpolit­ischen Vorgängen der vergangene­n Monate nicht nur beunruhigt, dass der Bundeskanz­ler an der Bestellung des Verstaatli­chtenchefs beteiligt gewesen sein könnte oder dass Politiker Steuergeld­er für ihre Karriere eingesetzt haben könnten (gilt dafür noch die Unschuldsv­ermutung?). Sondern auch, wie leicht man öffentlich entblößt werden kann. Auch wenn es vorerst nur Politiker trifft, deren Privatsphä­re man durch das Leaken und ausführlic­he Zitieren von Chatprotok­ollen liquidiert.

Der Rechtsstaa­t ist für uns Normalbürg­er der Garant unserer Freiheit. Er verhilft uns auch gegen die Mächtigen zu unserem Recht. Was aber, wenn wir erleben, dass einzelne Protagonis­ten des Rechtsstaa­tes im Umfeld von Staatsanwa­ltschaften und Untersuchu­ngsausschü­ssen selbst zu den Mächtigen gehören? Die das Gesetz ungestraft in die eigene Hand nehmen, wenn es um die Weitergabe vertraulic­her Untersuchu­ngsfunde geht? Auf wie viel Respekt kann ein Rechtssyst­em hoffen, das beginnt, den Unterworfe­nen gegenüber respektlos zu sein?

Im Frühling gab es noch nachdenkli­che Kommentare in den Medien. Mittlerwei­le nimmt man die Praxis für selbstvers­tändlich. Das Burgtheate­r inszeniert sogar eine szenische Lesung von Chatprotok­ollen. Hier geht es nicht mehr um Kontrolle der Macht oder Strafverfo­lgung. Die funktionie­ren auch ohne Enthüllung von Persönlich­em. Es geht wohl darum, der Öffentlich­keit die Würdelosig­keit eines „Systems“zu dokumentie­ren. Aber muss das sein, indem man die Beteiligte­n würdelos macht? Und sagen Sie bitte nicht: Politiker müssten sich so etwas eben gefallen lassen. Erstens haben wir keine Garantie, dass es nur Politiker treffen wird. Und zweitens graut mir vor einer Politik, die nur noch von Menschen betrieben wird, die freiwillig auf ihre Intimität verzichten, von Monstern.

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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