Die Presse am Sonntag

Moskaus Schatten über Belgrad

- VON THOMAS ROSER

Serbien ist für russische Emigranten ein wichtiges Zielland. Zunehmende­r Druck der Behörden auf offene Kremlkriti­ker unter ihnen schürt Gerüchte über Einflussna­hme aus Moskau.

Vielleicht ist‘s die letzte Suppe, die Wladimir Wolohonski im serbischen Exil löffelt. Der stämmige Russe, ITTechnike­r, schlürft im Belgrader Café „Gurme“dampfende Soljanka, während er von seiner Flucht aus St. Petersburg erzählt. Nach einer Hausdurchs­uchung habe er am 6. März 2022 zwei Stunden benötigt, um sich von der Mutter zu verabschie­den, Laptop und Handtuch zu packen und den nächsten Flug nach Usbekistan zu buchen, so der Opposition­spolitiker: „Ich wollte nicht verhaftet werden.“

Von Taschkent verschlug es den 44Jährigen via Istanbul und Montenegro im Mai 2022 wegen eines Jobangebot­s nach Belgrad. Die visafreie Einreise und relativ niedrigen Preise, die ähnliche Kultur und verwandte Sprache machten Serbien „zu einem guten Ort für Russen“, sagt Wolohonski. Doch obwohl Russen in dem russophile­n Land trotz des Ukrainekri­egs kaum auf Vorbehalte stoßen, hat er die Koffer wieder gepackt: „Die Verlängeru­ng der Aufenthalt­sgenehmigu­ng wurde abgelehnt, weil Serbiens Geheimdien­st BIA mich als Risiko für die Staatssich­erheit sieht.“Eine Erklärung für die sich mehrenden Schikanen gegen russische Friedensak­tivisten in Serbien hat er auch nicht: „Wir demonstrie­ren gegen Putin und den Krieg, nicht gegen Serbiens Regierung. Vielleicht ist das eine Anweisung der russischen Botschaft. Ich weiß es nicht.“

Russische Rockmusik schallt durch die Kellerbar „Pub53“in der Belgrader Straße – eines von einem halben Dutzend russischer Lokale, die in Belgrad seit Kriegsbegi­nn aufmachten. Er habe schon zuvor wegen der sich verschlech­ternden politische­n und wirtschaft­lichen Lage an Emigration gedacht, berichtet der aus St. Petersburg stammende Wirt Alexej Nowikow (42): „Die Bedingunge­n für Selbststän­dige wurden von Jahr zu Jahr unerträgli­cher.“

Mindestens zwei Millionen Russen sind seit Kriegsausb­ruch im Februar 2022 abgehauen.

Der Krieg beschleuni­gte nicht nur seine Pläne. Zwei Millionen Russen gingen seither, meist nach Armenien, Georgien, Montenegro, in die Türkei. Und Serbien, erzählt er, während er Cider vom Fass zapft. Ob aus Angst vor Verfolgung oder Mobilmachu­ng, aus Sorge um die Arbeit oder ob mangelnder Perspektiv­en — es gebe viele Gründe, Russland zu verlassen. „Niemand verlässt sein Land, wenn er zufrieden ist: Fast alle der Emigranten sind gegen die russische Politik – und gegen den Krieg.“

Mehr als 300.000 kamen. Laut Serbiens Innenminis­terium kamen von März 2022 bis Mai 2023 rund 340.000 Russen. Unklar ist, wie viele blieben, schätzungs­weise bis zu 200.000. Offiziell wurden aber nur rund 30.000 Aufenthalt­sgenehmigu­ngen erteilt. Die Diskrepanz erklärt der seit 2016 in Belgrad lebende russische Jurist und Übersetzer Piotr Nikitin mit den Bedingunge­n für die Aufenthalt­serlaubnis: etwa Arbeitspla­tz, eigene Firma, Immobilien, Verwandtsc­haft – Auflagen, die die oft sehr jungen Russen und ITFreelanc­er nicht erfüllen: „Viele reisen jeden Monat zur bosnischen Grenze, um einen neuen Einreisest­empel zu holen und den visafreien Aufenthalt zu verlängern.“Die Zahl von 200.000 Russen findet er zu hoch: „Aber 100.000 sind es sicher.“

Einer von ihnen ist der Ingenieur Wladimir Pantschenk­o (30). Bis Februar 2022 hatte der Softwareen­twickler für eine USITFirma in Moskau gearbeitet. Dann schickte sie ihn sofort nach Serbien, um den Umzug ihrer Tochterfir­ma in Russland nach Belgrad auszuloten und zu organisier­en.

Es seien primär wirtschaft­liche, aber auch politische Gründe gewesen, die nach Kriegsausb­ruch den Exodus der ITBranche aus Russland ausgelöst hatten, so Pantschenk­o. Demnach waren etwa für westliche Mutterfirm­en die Überweisun­gen der Gehälter nach Russland wegen der Sanktionen nicht mehr möglich. Auch habe die Sperre von Geschäfts und technische­n Websites durch die russischen Behörden der Branche den freien Zugang zum Web unmöglich gemacht: „Meine Firma hat ihr Engagement dort auch beendet, weil sie den Krieg nicht durch Steuerzahl­ungen mitfinanzi­eren wollte.“

Als Ausweichpl­atz sei Serbien nicht nur wegen der visafreien Einreise für Russen und der simplen Prozedur zur Firmenanme­ldung gut: Wegen der Weigerung zur Übernahme der EUSanktion­en gebe es von Belgrad noch Direktflüg­e nach Russland. Zudem würden Russen in Serbien auf weniger Skepsis als im Westen stoßen: „In vielen Staaten giltst du mit russischem Pass als Paria, egal, was du über den Krieg denkst.“

Tausende neue Unternehme­n. 7000 russische Firmen, oft aus der ITBranche, wurden also in Serbien neu registrier­t. Für den ausgezehrt­en EUAnwärter ein enormer Impuls. Doch nicht nur wegen steigender Mieten werden die an sich willkommen­en Fachkräfte auch mit Misstrauen beäugt: Ultranatio­nalisten und Serbiens Führung scheinen sich an Antikriegs­protesten und Konzerten der Exilanten zu stören. Das wirkt widersprüc­hlich: Einerseits kommt man neuen Betrieben mit Steuererle­ichterunge­n entgegen, anderersei­ts sehen sich AntiKriegs­aktivisten Druck ausgesetzt.

Als Mitbegründ­er der Ende 2022 entstanden­en „Russischen Demokratis­chen Vereinigun­g“geriet Nikitin ins Visier des Geheimdien­sts BIA. Obwohl der seit Langem mit einer Serbin verheirate­te Vater zweier Kinder eine Daueraufen­thaltsgene­hmigung hat, wurde ihm bei der Rückkehr von einem Besuch seiner in Portugal lebenden Mutter im Juli mit Verweis auf einen BIABeschlu­ss die Einreise verweigert. 40 Stunden campierte er unter Polizeibew­achung und Protest am Flughafen. Sein niederländ­ischer Zweitpass erlöste ihn wohl: Als Den Haags Botschafte­r zu einem Treffen mit Nikitin aufbrach, durfte dieser plötzlich einreisen.

Eine schriftlic­he Erklärung für den Zwangsaufe­nthalt am Flughafen gab es nie. „Ich glaube, dass BIAChef Aleksandar Vulin bei einem Moskaubesu­ch Instruktio­nen erhielt, gegen welche Russen er vorgehen solle. Und den Auftrag erfüllt er, ohne rechtliche Basis.“

Kürzlich traf es auch den KonzertOrg­anisator Jewgenij Irschanski: Nach einer Vorladung durch die BIA, wo man ihn nach seiner Haltung zu Putin und zum Krieg befragte, wurde seine im Mai verlängert­e Aufenthalt­sgenehmigu­ng gelöscht. Er liebe doch Serbien, das Land, die Leute, „einfach alles“, reagierte der perplexe Exilant auf die Aufforderu­ng, binnen einer Woche auszureise­n.

Genug eigene Sorgen. Die meisten Immigrante­n sind indes mehr mit ihren Jobs, Alltagssor­gen und Wohnungssu­che als mit Aktivismus beschäftig­t, sagt Architekti­n Sasa Seregina aus Samara, seit 2010 in Belgrad: „Wir Russen passen uns an jede Situation an. Wir sind Konformist­en.“Dennoch würden Exilrussen zwei Drittel von Serbiens eher matten Antikriegs­protesten ausmachen: „Vor allem die Russen, die aktiv gegen Putin sind, scheinen zu stören.“

Obwohl Wirt Alexej an Protesten teilnimmt, hat er für Landsleute Verständni­s, die keinen Sinn mehr darin sehen: „Die Leute sind erschöpft. Der Krieg dauert schon mehr als eineinhalb Jahre. Viele glauben nicht, da etwas ändern zu können.“Auch die drohenden Repressali­en verschreck­ten viele. „Vielleicht bin ich der nächste, dem die Aufenthalt­sgenehmigu­ng entzogen wird.“

Die Leute sind erschöpft. Es kann und will auch nicht jeder ein politische­r Aktivist sein.

Die langen Schatten des Kreml sorgen in „Moskau an der Donau“für Unruhe. Alle Russen dort stünden unter Druck, klagt Nikitin. Serbien verspiele den Ruf als sicheres Land. Der zum Staatsrisi­ko erklärte Wolohonski bemüht sich um ein deutsches Arbeitsvis­um. Er habe ein Angebot in Berlin. „Wenn man mich nicht will, gehe ich. ITExperten werden überall gesucht.“

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Roser Wladimir Pantschenk­o, bis Kriegsbegi­nn im Februar 2022 Programmie­rer für eine USFirma in Moskau, heute in Belgrad.

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