Moskaus Schatten über Belgrad
Serbien ist für russische Emigranten ein wichtiges Zielland. Zunehmender Druck der Behörden auf offene Kremlkritiker unter ihnen schürt Gerüchte über Einflussnahme aus Moskau.
Vielleicht ist‘s die letzte Suppe, die Wladimir Wolohonski im serbischen Exil löffelt. Der stämmige Russe, ITTechniker, schlürft im Belgrader Café „Gurme“dampfende Soljanka, während er von seiner Flucht aus St. Petersburg erzählt. Nach einer Hausdurchsuchung habe er am 6. März 2022 zwei Stunden benötigt, um sich von der Mutter zu verabschieden, Laptop und Handtuch zu packen und den nächsten Flug nach Usbekistan zu buchen, so der Oppositionspolitiker: „Ich wollte nicht verhaftet werden.“
Von Taschkent verschlug es den 44Jährigen via Istanbul und Montenegro im Mai 2022 wegen eines Jobangebots nach Belgrad. Die visafreie Einreise und relativ niedrigen Preise, die ähnliche Kultur und verwandte Sprache machten Serbien „zu einem guten Ort für Russen“, sagt Wolohonski. Doch obwohl Russen in dem russophilen Land trotz des Ukrainekriegs kaum auf Vorbehalte stoßen, hat er die Koffer wieder gepackt: „Die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung wurde abgelehnt, weil Serbiens Geheimdienst BIA mich als Risiko für die Staatssicherheit sieht.“Eine Erklärung für die sich mehrenden Schikanen gegen russische Friedensaktivisten in Serbien hat er auch nicht: „Wir demonstrieren gegen Putin und den Krieg, nicht gegen Serbiens Regierung. Vielleicht ist das eine Anweisung der russischen Botschaft. Ich weiß es nicht.“
Russische Rockmusik schallt durch die Kellerbar „Pub53“in der Belgrader Straße – eines von einem halben Dutzend russischer Lokale, die in Belgrad seit Kriegsbeginn aufmachten. Er habe schon zuvor wegen der sich verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Lage an Emigration gedacht, berichtet der aus St. Petersburg stammende Wirt Alexej Nowikow (42): „Die Bedingungen für Selbstständige wurden von Jahr zu Jahr unerträglicher.“
Mindestens zwei Millionen Russen sind seit Kriegsausbruch im Februar 2022 abgehauen.
Der Krieg beschleunigte nicht nur seine Pläne. Zwei Millionen Russen gingen seither, meist nach Armenien, Georgien, Montenegro, in die Türkei. Und Serbien, erzählt er, während er Cider vom Fass zapft. Ob aus Angst vor Verfolgung oder Mobilmachung, aus Sorge um die Arbeit oder ob mangelnder Perspektiven — es gebe viele Gründe, Russland zu verlassen. „Niemand verlässt sein Land, wenn er zufrieden ist: Fast alle der Emigranten sind gegen die russische Politik – und gegen den Krieg.“
Mehr als 300.000 kamen. Laut Serbiens Innenministerium kamen von März 2022 bis Mai 2023 rund 340.000 Russen. Unklar ist, wie viele blieben, schätzungsweise bis zu 200.000. Offiziell wurden aber nur rund 30.000 Aufenthaltsgenehmigungen erteilt. Die Diskrepanz erklärt der seit 2016 in Belgrad lebende russische Jurist und Übersetzer Piotr Nikitin mit den Bedingungen für die Aufenthaltserlaubnis: etwa Arbeitsplatz, eigene Firma, Immobilien, Verwandtschaft – Auflagen, die die oft sehr jungen Russen und ITFreelancer nicht erfüllen: „Viele reisen jeden Monat zur bosnischen Grenze, um einen neuen Einreisestempel zu holen und den visafreien Aufenthalt zu verlängern.“Die Zahl von 200.000 Russen findet er zu hoch: „Aber 100.000 sind es sicher.“
Einer von ihnen ist der Ingenieur Wladimir Pantschenko (30). Bis Februar 2022 hatte der Softwareentwickler für eine USITFirma in Moskau gearbeitet. Dann schickte sie ihn sofort nach Serbien, um den Umzug ihrer Tochterfirma in Russland nach Belgrad auszuloten und zu organisieren.
Es seien primär wirtschaftliche, aber auch politische Gründe gewesen, die nach Kriegsausbruch den Exodus der ITBranche aus Russland ausgelöst hatten, so Pantschenko. Demnach waren etwa für westliche Mutterfirmen die Überweisungen der Gehälter nach Russland wegen der Sanktionen nicht mehr möglich. Auch habe die Sperre von Geschäfts und technischen Websites durch die russischen Behörden der Branche den freien Zugang zum Web unmöglich gemacht: „Meine Firma hat ihr Engagement dort auch beendet, weil sie den Krieg nicht durch Steuerzahlungen mitfinanzieren wollte.“
Als Ausweichplatz sei Serbien nicht nur wegen der visafreien Einreise für Russen und der simplen Prozedur zur Firmenanmeldung gut: Wegen der Weigerung zur Übernahme der EUSanktionen gebe es von Belgrad noch Direktflüge nach Russland. Zudem würden Russen in Serbien auf weniger Skepsis als im Westen stoßen: „In vielen Staaten giltst du mit russischem Pass als Paria, egal, was du über den Krieg denkst.“
Tausende neue Unternehmen. 7000 russische Firmen, oft aus der ITBranche, wurden also in Serbien neu registriert. Für den ausgezehrten EUAnwärter ein enormer Impuls. Doch nicht nur wegen steigender Mieten werden die an sich willkommenen Fachkräfte auch mit Misstrauen beäugt: Ultranationalisten und Serbiens Führung scheinen sich an Antikriegsprotesten und Konzerten der Exilanten zu stören. Das wirkt widersprüchlich: Einerseits kommt man neuen Betrieben mit Steuererleichterungen entgegen, andererseits sehen sich AntiKriegsaktivisten Druck ausgesetzt.
Als Mitbegründer der Ende 2022 entstandenen „Russischen Demokratischen Vereinigung“geriet Nikitin ins Visier des Geheimdiensts BIA. Obwohl der seit Langem mit einer Serbin verheiratete Vater zweier Kinder eine Daueraufenthaltsgenehmigung hat, wurde ihm bei der Rückkehr von einem Besuch seiner in Portugal lebenden Mutter im Juli mit Verweis auf einen BIABeschluss die Einreise verweigert. 40 Stunden campierte er unter Polizeibewachung und Protest am Flughafen. Sein niederländischer Zweitpass erlöste ihn wohl: Als Den Haags Botschafter zu einem Treffen mit Nikitin aufbrach, durfte dieser plötzlich einreisen.
Eine schriftliche Erklärung für den Zwangsaufenthalt am Flughafen gab es nie. „Ich glaube, dass BIAChef Aleksandar Vulin bei einem Moskaubesuch Instruktionen erhielt, gegen welche Russen er vorgehen solle. Und den Auftrag erfüllt er, ohne rechtliche Basis.“
Kürzlich traf es auch den KonzertOrganisator Jewgenij Irschanski: Nach einer Vorladung durch die BIA, wo man ihn nach seiner Haltung zu Putin und zum Krieg befragte, wurde seine im Mai verlängerte Aufenthaltsgenehmigung gelöscht. Er liebe doch Serbien, das Land, die Leute, „einfach alles“, reagierte der perplexe Exilant auf die Aufforderung, binnen einer Woche auszureisen.
Genug eigene Sorgen. Die meisten Immigranten sind indes mehr mit ihren Jobs, Alltagssorgen und Wohnungssuche als mit Aktivismus beschäftigt, sagt Architektin Sasa Seregina aus Samara, seit 2010 in Belgrad: „Wir Russen passen uns an jede Situation an. Wir sind Konformisten.“Dennoch würden Exilrussen zwei Drittel von Serbiens eher matten Antikriegsprotesten ausmachen: „Vor allem die Russen, die aktiv gegen Putin sind, scheinen zu stören.“
Obwohl Wirt Alexej an Protesten teilnimmt, hat er für Landsleute Verständnis, die keinen Sinn mehr darin sehen: „Die Leute sind erschöpft. Der Krieg dauert schon mehr als eineinhalb Jahre. Viele glauben nicht, da etwas ändern zu können.“Auch die drohenden Repressalien verschreckten viele. „Vielleicht bin ich der nächste, dem die Aufenthaltsgenehmigung entzogen wird.“
Die Leute sind erschöpft. Es kann und will auch nicht jeder ein politischer Aktivist sein.
Die langen Schatten des Kreml sorgen in „Moskau an der Donau“für Unruhe. Alle Russen dort stünden unter Druck, klagt Nikitin. Serbien verspiele den Ruf als sicheres Land. Der zum Staatsrisiko erklärte Wolohonski bemüht sich um ein deutsches Arbeitsvisum. Er habe ein Angebot in Berlin. „Wenn man mich nicht will, gehe ich. ITExperten werden überall gesucht.“