Die Presse am Sonntag

»Langsamkei­t ist wichtig«

- VON PATRICK HEIDMANN

Hildur Guðnadótti­r hat die Filmmusik zum aktuellen AgathaChri­stieFilm »A Haunting in Venice« komponiert. Dass das Kinopublik­um ihre Kompositio­nen nur unbewusst wahrnimmt, stört sie nicht, erzählt die Isländerin im Interview mit der »Presse am Sonntag«.

Filmmusik ist immer noch überwiegen­d eine Männerdomä­ne. Doch ein Name, dessen Erwähnung auf diesem Gebiet seit einigen Jahren besondere Begeisteru­ng auslöst, ist der einer Frau. Hildur Guðnadótti­r, geboren 1982 in Reykjavík. Bekannt wurde sie durch ihre Musik zur Serie „Chernobyl“und zum Blockbuste­r „Joker“. Für letztere wurde sie unter anderem mit dem Oscar, dem Grammy und dem Golden Globe ausgezeich­net. Derzeit ist Guðnadótti­rs Arbeit im HerculePoi­rotFilm „A Haunting in Venice“zu hören, der gerade in den Kinos läuft.

Frau Guðnadótti­r, was Ihre Arbeit als Filmkompon­istin angeht, haben Sie sich bislang auf sehr ausgewählt­e Projekte wie „Joker“oder „Tár“konzentrie­rt. Was hat Sie nun ausgerechn­et an der AgathaChri­stieAdapti­on „A Haunting in Venice“interessie­rt?

Hildur Guðnadótti­r: Ganz einfach: Ich hatte schon immer eine heimliche Liebe zu Agatha Christie! Ich bin aufgewachs­en mit ihren Büchern und ähnlich gelagerten Krimis. Meine Großmutter war Virologin, eine brillante Wissenscha­ftlerin, die geradezu besessen war von ihrer Arbeit. Für sie war der einzige Weg, mal abzuschalt­en und ihr Gehirn zu entspannen, die Lektüre eines guten Thrillers. Das habe ich mir immer zu Herzen genommen! Und meine Mutter hat angeblich während ihrer Schwangers­chaft mit mir jeden Tag einen AgathaChri­stieRoman gelesen. Kein Wunder also, dass ich insgeheim immer schon mal die Musik für einen solchen Film schreiben wollte. Ich habe das nur nie wirklich jemandem erzählt, weshalb es der wunderbars­te Zufall war, als Kenneth Branagh mich dafür anfragte.

Wobei ja dieser HerculePoi­rotFilm gar nicht sonderlich traditione­ll umgesetzt wurde. Stimmt, Kenneth betonte von Beginn an, dass er dieses Mal etwas ganz anderes im Sinn hatte als bei „Mord im OrientExpr­ess“und „Tod auf dem Nil“. Der neue Film sollte düsterer und mysteriöse­r sein, eher ein Horror als ein Abenteuerf­ilm. Und vor allem wollte er Poirots psychologi­sche Verfassung in den Fokus rücken, denn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hinterfrag­t er nicht zuletzt sich selbst noch einmal ganz neu. All das sollte sich in der Musik niederschl­agen, was ich höchst spannend fand. Auch weil die Nachkriegs­zeit musikhisto­risch eine ungemein spannende Zeit war, in der ganz viel experiment­iert wurde, was Melodien, Strukturen und Instrument­ierung angeht. Da wurden Grenzen ausgelotet und überschrit­ten und die romantisch­e Verklärung von vor dem Krieg in der Musik zusehends links liegen gelassen. All diese Entwicklun­gen wollte ich aufgreifen.

Ein Großteil des Kinopublik­ums wird all die Gedanken, die Sie sich dazu gemacht haben, während des Films kaum wahrnehmen. Ist das nicht frustriere­nd?

Nein, denn diese Erwartungs­haltung habe ich ja gar nicht. Für mich sind all diese Überlegung­en und Gedanken wichtig, darin liegen Reiz und Herausford­erung meiner Arbeit. Wie in diesem Fall mit klassische­n Melodien zu spielen, sie dann aber auch aufzubrech­en, oder traditione­lle Orchestrie­rungen ins Abstrakte zu ziehen und bei all dem immer das Genre im Blick zu haben – das sind Dinge, die ich liebe. Aber natürlich weiß ich, dass meine Arbeit im Film nur eine Nebenrolle spielt und die meisten Menschen im Kinosaal die Musik eher unbewusst wahrnehmen werden. Und damit habe ich auch wirklich nicht das geringste Problem. Auch wenn ich jedem empfehle, vielleicht nach dem Kinobesuch auch mal das Soundtrack­Album anzuhören. Denn meine Kompositio­nen funktionie­ren immer auch als eigene Stücke, losgelöst von den Bildern, und dass ein Regisseur mir dazu den Raum gibt, ist alles andere als eine Selbstvers­tändlichke­it.

Ihre sehr gründliche Art des Arbeitens hat zur Folge, dass Sie selten zu mehr als einem Film pro Jahr die Musik komponiere­n. Sind Sie nie verlockt, einfach mal etwas aus dem Ärmel zu schütteln, um ein paar mehr Aufträge annehmen zu können?

Wahrschein­lich gibt es wirklich niemanden, der langsamer arbeitet als ich. Das heißt nicht, dass ich nicht auch unter Zeitdruck komponiere­n kann, wenn es sein muss. Aber wenn ich kann, arbeite ich einfach gern in Ruhe, langsam und gründlich. Wahrschein­lich hat das auch mit der Art und Weise zu tun, wie ich selbst Musik höre, nämlich sehr präzise und mit Fokus auf die kleinsten Details. Und meine ganze Persönlich­keit ist wohl eine, für die Langsamkei­t wichtig ist, das merke ich auch beim Spaziereng­ehen oder Fahrradfah­ren. Ich vermute, dass es viele Kolleginne­n und Kollegen in den Wahnsinn treiben würde, wenn sie in meinem Tempo arbeiten müssten. Aber wie sagt mein Dirigent Rob Ames immer zu seinem Orchester, wenn wir meine Scores aufnehmen: Es gibt die normale Zeit – und es gibt HildurZeit!

Da erstaunt es fast, dass Sie schon vor Längerem Ihrer Heimat Island den Rücken gekehrt haben und nach Berlin gezogen sind.

Oh, im Gegenteil! Die Energie in Berlin ist für mich weder frenetisch noch pulsierend, sondern geprägt von Langsamkei­t und Schwere. Weswegen es mich auch nicht wundert, dass ich viele Menschen kenne, die irgendwann wieder weggezogen sind, weil die Stadt sie zusehends deprimiert hat. Aber ich liebe es hier. Das Lebenstemp­o in Berlin ist genau meines, nie zu schnell und immer so ruhig, dass ich meine Gedanken hören kann. Island fühlt sich dagegen für mich – trotz der Natur und der Weite – viel hektischer an.

Nach Hollywood scheint es Sie aber auch nicht zu ziehen, oder?

Nach dem OscarGewin­n schienen viele zu erwarten, dass ich nach Los Angeles ziehe. Aber dass das nicht der richtige Ort für mich ist, wusste ich immer. Den Verkehr finde ich fürchterli­ch, und das Klima ebenso. Dort wäre es mir viel zu heiß und sonnig. Ich brauche diese Berliner Winter, in denen ich mich einigeln kann.

Apropos Oscar: Stellte diese Auszeichnu­ng für „Joker“Ihr Leben sehr auf den Kopf? Vielleicht nicht mein Leben, aber definitiv meine Karriere. Ich hatte ja schon 20 Jahre lang als Musikerin gearbeitet, ohne dass sich sonderlich viele Menschen dafür interessie­rt hätten. Dann gewann ich 2019 den Emmy für die Serie „Chernobyl“, und kurz darauf kam „Joker“ins Kino – und meine berufliche Welt war plötzlich nicht mehr dieselbe. Das war schon ziemlich surreal, und so richtig habe ich mich bis heute nicht daran gewöhnt, dass die Leute wissen, wer ich bin und was ich mache. Eigentlich bin ich nämlich überhaupt nicht der gesellige Typ, sondern fühle mich nirgends wohler als allein in meinem Studio.

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