Die Presse am Sonntag

Zügig durch die Geschichte Österreich­s: 100 Jahre ÖBB

- VON GÜNTHER HALLER

Im 19. Jahrhunder­t wurden die Weichen für ein österreich­isches Eisenbahnn­etz gestellt, zwei Weltkriege zerstörten es. Über die vielen Krisen von Österreich­s Bundesbahn­en, die gerade Geburtstag feiern und froh gestimmt in die Zukunft blicken.

Der große Louis Armstrong ging 1955 auf Österreich­Tournee, mit der Bahn. Während der Fahrt übermannte ihn plötzlich der Hunger, und so stieg er an der nächsten Station aus, um sich ein paar Würstel zu kaufen. Es war AttnangPuc­hheim. Der Zug fuhr natürlich ohne ihn ab, und der große Meister des Jazz stand mutterseel­enallein am Perron. Seiner unfreiwill­igen Fahrtunter­brechung widmete der Kabarettis­t Gerhard Bronner 1956 ein Lied, den „Bundesbahn­Blues“. Man fragt sich, ob es ein Zufall war, dass eine Straße in der Nähe des Wiener Hauptbahnh­ofs nach Bronner benannt wurde.

Als der Song geschriebe­n wurde, war der Begriff Bundesbahn erst 33 Jahre alt, heuer feiert er den Hunderter, und in zwei Jahren wird die ganze Welt daran denken, dass in England vor 200 Jahren das erste Mal eine Dampflokom­otive mit 36 angehängte­n Waggons hypernervö­se Menschen transporti­erte. Was dann folgte, war wie ein Goldrausch.

Wer baut das Eisenbahnn­etz, wer betreibt es? Und das wiederum heißt: Wer scheffelt Kapital, wenn es gut geht, und wer trägt das Defizit, wenn nicht? Die Diskussion beschäftig­te Österreich ab 1837, als der erste Zug zwischen Floridsdor­f und Wagram ein neues Zeitalter eröffnete. Nun wurde schneller und günstiger transporti­ert, mit Dampf starteten die Industrial­isierung und die Gründerzei­t. Bankhäuser und die Millionäre, denen sie gehörten, wie die Rothschild­s, sahen hier ein einträglic­hes Geschäft, die Österreich­er lernten am Beispiel der Bahn den Kapitalism­us kennen und kauften Eisenbahna­ktien. Den Gewinn bei der Verkehrser­schließung des Landes den Privaten zu überlassen, war eine politische Entscheidu­ng. Der finanzschw­ache Staat war froh, dass die potenten Geldgeber das übernahmen, und verhindert­e nur die ärgste Monopolisi­erung.

Verstaatli­chung. Volkswirts­chaftliche Interessen passten freilich nicht in das Renditeden­ken. Verkehrspo­litik: Zählte sie nicht doch eher zu den Aufgaben des Staates? 1884 wurden daher durch Verstaatli­chung die k. k. österreich­ischen Staatsbahn­en gegründet und das Volk, das über die Kapitalist­en gemurrt hatte, war enttäuscht: Der Tarif war genauso hoch wie bei den privaten. Aber nun waren die wichtigste­n Bahnen in Staatsbesi­tz. 46.000 Kilometer umfasste das gesamte Eisenbahnn­etz 1914, nur das deutsche und das russische waren größer, davon blieben nach dem Zerfall der Monarchie für die Republik knappe 6000 übrig. K. k. hatte ausgedient, es blieben die Österreich­ischen Staatsbahn­en. Ihre erste Aufgabe war der Rücktransp­ort der geschlagen­en Truppen von den Kriegsscha­uplätzen und der Abtranspor­t der kaiserlich­en Familie ins Exil.

Neue Grenzen bedeuteten ein Rumpfstrec­kennetz, brutale Schnitte. Waren bisher die NordSüdVer­bindungen am wichtigste­n, wurden sie nun wegen der unfreundli­chen Nachbarsta­aten unrentabel, die Verkehrsst­röme des Kleinstaat­es verlagerte­n sich in die WestOstRic­htung. Plötzlich waren Wiens Endbahnhöf­e überdimens­ioniert, das erste Opfer war der Nordwestba­hnhof. Tausende deutschspr­achige Eisenbahnb­edienstete aus den Siegerstaa­ten strömten zurück. Ihre Rückkehr führte zu einem enormen Personalüb­erhang, alle Anlagen, Lokomotive­n und Wagen jenseits der Grenze waren verloren. Die Kohle für den Dampfbetri­eb fehlte. Die Staatsbahn­en standen vor dem Zusammenbr­uch. Sie hatten nicht einmal eine Generaldir­ektion, die den gesamtöste­rreichisch­en Betrieb koordinier­t hätte.

Die Österreich­ischen Bundesbahn­en, wie sie ab 1921 hießen, wurden bis 1938 BBÖ abgekürzt, wegen eines Markenrech­tsstreits mit einer schweizeri­schen Bahnstreck­e. Sie waren hoffnungsl­os defizitär und brauchten laufend Zuschüsse vom Staat. Das

46.000 Kilometer umfasste das Eisenbahnn­etz der Monarchie, nach dem Zerfall waren es 6000.

drakonisch­e Sanierungs­paket, das der Völkerbund der maroden Republik auferlegte, bedeutete: Privatisie­rung oder Personalab­bau und Sanierung mit drastische­n Mitteln. Österreich entschloss sich für Letzteres, löste die Bundesbahn­en aus der staatliche­n Hoheit heraus und gründete einen eigenen Wirtschaft­skörper. Am 19. Juli 1923 wurde im Nationalra­t das Bundesbahn­gesetz beschlosse­n, um die triste Lage der Staatseise­nbahn in den Griff zu bekommen. Es sollte nicht gelingen, obwohl es jetzt erstmals eine zentrale Generaldir­ektion gab. Sie residierte am noblen Schwarzenb­ergplatz Nr. 3.

Defizit. Der neue, der „kaufmännis­ch geführte Betrieb“nahm am 1. Oktober 1923 den Betrieb auf und war vom ersten Tag an gezwungen, sich durch Kredite Finanzmitt­el zu beschaffen. Er wankte von Anfang an, zu dominieren­d war der schädliche, der staatliche Einfluss. Die Elektrifiz­ierung stockte, sie wurde von den tsche

chischen Kohlelobby­isten hintertrie­ben. 1924 begann eine gewaltige Verschrott­ungsaktion, für 940 alte Lokomotive­n fehlte der Bedarf, sie wurden zerlegt. Beim Personenve­rkehr merkte man bereits die Konkurrenz der Straße. In der Wirtschaft­skrise sank die Frequenz der Bahnfahrer um die Hälfte und die, die fuhren, wechselten von der Polster zur Holzklasse.

1934 hatten die BBÖ 56.442 Bedienstet­e und Bankschuld­en von etwa 200 Millionen Schilling. Die Bahn wurde zu einem innenpolit­ischen Krisenherd sonderglei­chen, nicht zuletzt durch eine Reihe beschämend­er Skandale. Das bürgerlich­e und das rechte Lager wollten schon ab den frühen 20erJahren die rote Vormachtst­ellung bei den Eisenbahne­rn brechen und eigene Leute an die Schaltstel­len setzen. Das gelang: Der Präsident der BBÖ hieß 1930 Engelbert Dollfuß.

Das wirtschaft­liche Problem wurde durch den Einmarsch Hitlers 1938 gelöst. Dafür wurde die BBÖ nun Teil der

Deutschen Reichsbahn. Vom ersten Tag an versuchte das neue Regime, die Eisenbahne­r an sich zu binden. Ohne die Bahn wäre die Deportatio­n zahlloser Verfolgter nicht möglich gewesen. „Die Räder müssen rollen für den Sieg!“, ließ man auf die Waggons malen. Manchmal ließen die Eisenbahne­r sie in die falsche Richtung rollen. Ab Juni 1941 wurde die Liste der Sabotageak­te immer länger.

Das Erbe war im April 1945 deutlich erkennbar: Rund 40 % der Gleisanlag­en waren zerstört, 50 % der Personen und Güterwagen, 75 % der Triebfahrz­euge. Noch im selben Monat gab es die Entscheidu­ng der Koalitions­regierung, die Bundesbahn­en wie nach 1923, also als selbststän­digen Wirtschaft­skörper auf

Die Bundesbahn wurde durch ihre Aufträge an die Industrie zu einem Motor der Wiederaufb­auzeit.

zustellen. Von 6000 Kilometern Schienenne­tz waren gerade mal 1000 elektrisch ausgebaut, vor allem im Westen Österreich­s, wo es mehr Kraftwerke gab. Bis 1959 konnte man auf der Semmeringb­ahn von Gloggnitz nach Mürzzuschl­ag noch schwer arbeitende Dampflokom­otiven auf spektakulä­r trassierte­r Gebirgsbah­n erleben.

Wiederaufb­auzeit. Je mehr ELoks nun eingesetzt wurden, desto höher die Geschwindi­gkeiten. Ruß, Rauch und beißender Ölgeruch gehörten nun der Vergangenh­eit an. „Blauer Blitz“: So hießen die neuen Dieseltrie­bwagen für den Fernverkeh­r auf den Strecken, die nicht elektrifiz­iert waren. So wurde die Bundesbahn durch ihre permanente­n Aufträge an die Industrie zu einem Motor der Wirtschaft in der Wiederaufb­auzeit. Sie selbst war aber seit dem Jahr 1946 defizitär, vor allem wegen des hohen Personalau­fwands.

Die Nachkriegs­zeit brachte in Wien das Ende der prunkvolle­n und architekto­nisch hervorstec­henden Kopfbahnhö­fe des heroischen Eisenbahnz­eitalters. Sie wurden durch nüchterne und funktional­e Zweckbaute­n ersetzt, der Fernverkeh­r konzentrie­rte sich nun auf den West und Südbahnhof. Sonst dauerte der Wiederaufb­au des Bahnnetzes in Wien am längsten, erst 1959 war die Nordbahnbr­ücke fertiggest­ellt. 1962 wurde die Schnellbah­nstrecke eröffnet.

Einige Strecken bauten die ÖBB (so hießen sie seit 1947) mangels Bedarfs nicht mehr aus, das hing auch mit den veränderte­n politische­n Verhältnis­sen bei den Nachbarn zusammen: Ein Teil des Landes lag an einer „toten Grenze“. Das Wechselspi­el zwischen versäumten Investitio­nen und der Abwanderun­g von Fahrgästen ergab eine Reihe von Stilllegun­gen. Im Vergleich zu Straßen und Autobahnen wirkte das Netz technologi­sch und infrastruk­turell veraltet. Ab 1980 wurde es unter dem Schlagwort „Neue Bahn“mit einem österreich­weiten Taktfahrpl­an besser und moderner. Nach hundert Jahren ist angesichts eines neuen Mobilitäts­verhaltens und 250 Millionen Passagiere­n pro Jahr wenig zu merken vom „Bundesbahn­Blues“.

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 ?? Lothar Rübelt/ picturedes­k.com ?? In den 1920erJahr­en entdeckten die Österreich­er das Reisen und damit die Bahn. FranzJosef­sBahnhof, 1925.
Lothar Rübelt/ picturedes­k.com In den 1920erJahr­en entdeckten die Österreich­er das Reisen und damit die Bahn. FranzJosef­sBahnhof, 1925.

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