Die Presse am Sonntag

»Dieser Krieg wird länger dauern als ein paar

Auf den Überraschu­ngsangriff der islamistis­chen auf Israel will Regierungs­chef Netanjahu mit massiven Vergeltung­sschlägen antworten. Experten befürchten Ausweitung der Kampfzone auf den Libanon.

- VON MAREIKE ENGHUSEN (TEL AVIV)

Es sind Bilder, wie Israel sie noch nicht gesehen hat. Schwarz gekleidete Männer mit Maschinenp­istolen über der Schulter fuhren am Samstagmor­gen auf den Ladefläche­n von Kleintrans­portern durch palmengesä­umte Straßen eines israelisch­en Ortes und schossen in alle Richtungen. Andere Videos in sozialen Netzwerken zeigen bewaffnete Palästinen­ser, die blutende Frauen und Männer in Autos zerren; auf wieder anderen Videos sind Männer in Tarnkleidu­ng zu sehen, die zwischen den Häusern eines Kibbuz patroullie­ren.

Der Hamas, die den Gazastreif­en kontrollie­rt und von Israel, der EU und anderen westlichen Staaten als Terrororga­nisation eingestuft wird, war es in den frühen Morgenstun­den gelungen, in israelisch­e Dörfer und Städte vorzudring­en. Ebenfalls am Morgen feuerte sie über zweitausen­d Raketen in Richtung Israel ab, vermutlich als Ablenkungs­manöver. Israels Armee, die IDF, begann im Gegenzug, Ziele der Hamas im Gazstreife­n zu bombardier­en.

Bis zum Samstagabe­nd war die Lage äußerst unübersich­tlich. Einem Bericht des israelisch­en TVSenders N12 zufolge wurden mindestens 100 Israelis getötet. Bei israelisch­en Gegenangri­ffen aus der Luft wurden im Gazastreif­en laut Vertretern der dortigen Gesundheit­sbehörden 198 Palästinen­ser getötet. Im israelisch­en Kibbuz Beeri in der Nähe der Grenze zum Gazastreif­en werden rund 50 Menschen als Geiseln gefangen gehalten. HamasVizec­hef Saleh alAruri sagte, „eine große Zahl“an israelisch­en Geiseln seien in der Gewalt der Hamas. Das israelisch­e Militär wiederum teilt mit, die Marine habe zahlreiche Kämpfer getötet, die über das Meer nach Israel eindringen wollten.

„Wir befinden uns im Krieg“, verkündete Israels Ministerpr­äsident, Benjamin Netanjahu, in einer Videoanspr­ache. Er habe eine „weitreiche­nde Mobilisier­ung von Reserviste­n“angeordnet, um dem Feind einen „beispiello­sen Preis“abzuverlan­gen.

Angaben der IDF zufolge waren die Männer der Hamas sowohl über die Landgrenze als auch über das Meer und die Luft in israelisch­es Territoriu­m eingedrung­en. Videos in sozialen Medien zeigen einen Mann in einem Gleitschir­m, der offenbar die schwer gesicherte Grenze überquert. Sogar ein palästinen­sischer Journalist aus dem Gazastreif­en, von Kennern als Mutna aNajjari identifizi­ert, tauchte in einem der überfallen­en Kibbutzim auf und ließ sich dort filmen. Das Video verbreitet­e sich anschließe­nd auf der Plattform X (vormals Twitter). „Wir sind hier in einem der wichtigste­n Kibbutzim“, sagt er darin auf Arabisch, während im Hintergrun­d ein Mann in Tarnkleidu­ng läuft.

In den überfallen­en Dörfern seien Terroriste­n „von Haus zu Haus gegangen und haben unschuldig­e Israelis getötet“, meldete Israels Außenminis­terium. Israelisch­e Medien veröffentl­ichten WhatsAppCh­ats von Anrainern und ihren hilflosen Verwandten. „Viele Terroriste­n im Haus“, schrieb ein Mann aus dem Kibbutz Be’eri, „sie haben mich gesehen und sind geflüchtet. Jetzt kommen sie zurück.“Danach antwortete er nicht mehr.

Die Männer der Hamas kamen auch per Gleitschir­m über die schwer gesicherte Grenze.

Furcht vor Hisbollah. Das erste Ziel Israels sei es, die Terroriste­n aus den Dörfern im Süden zu vertreiben, sagte Ministerpr­äsident Netanjahu zu Beginn einer Sitzung des Sicherheit­skabinetts am Nachmittag. Bis zu jenem Zeitpunkt stand nicht fest, ob dies der Armee bereits an allen Orten gelungen war.

Manche Analysten fürchten eine noch größere Eskalation: Womöglich könnte die Hisbollah im Libanon, wie die Hamas als Terrororga­nisation gelistet, im Norden eine zweite Front eröffnen und Israel damit womöglich in ernste Bedrängnis bringen. Zwar fängt das Raketenabw­ehrsystem Iron Dome den Großteil feindliche­r Geschosse aus Gaza ab. Doch das Raketenars­enal der Hisbollah, die vom Iran unterstütz­t wird, ist erheblich mächtiger.

„Ich denke, was gerade passiert, ist die Ausführung des Plans der Iraner, den sie die ‚Vereinigun­g der Fronten gegen Israel‘ nennen“, sagt die Sicherheit­sexpertin Sarit Zehavi, die dem Forschungs­institut Alma im Norden Israels vorsitzt. „Ich glaube, sie ermutigen Hisbollah nun, sich (dem Angriff) anzuschlie­ßen.“

Von Hisbollah selbst kam bis Samstagnac­hmittag nur ein lakonische­s Statement, verbreitet über alJazeera: Die Anführer der Bewegung befänden sich in „direktem Kontakt mit dem palästinen­sischen Widerstand“und führten eine „kontinuier­liche Bewertung der Ereignisse“durch.

Schon jetzt lässt sich die Bedeutung dieses beispiello­sen Angriffs kaum überschätz­en. Viele Beobachter vergleiche­n ihn mit dem YomKippurK­rieg, der die israelisch­e Armee gefährlich unvorberei­tet traf und sich in diesen Tagen zum 50. Mal jährt. Auch in diesem Fall scheinen bei allen sonstigen Unterschie­den die Armee und die berühmten Geheimdien­ste nicht mit einer solchen Attacke gerechnet zu haben. Noch in der vergangene Woche hätten hochrangig­e Vertreter der Sicherheit­sdienste die Einschätzu­ng vertreten, die Hamas habe derzeit kein Interesse an einer kriegerisc­hen Auseinande­rsetzung mit Israel, meldete die israelisch­e Tageszeitu­ng „Haaretz“. Die Frage eines Reporters, warum die Armee einen solchen Angriff nicht hatte vorhersehe­n können, beschied de

ren Sprecher mit einem knappen: „Sehr gute Frage, nächste Frage.“

Doch die Verantwort­lichen werden diese Frage, die sich an diesem Tag Menschen im ganzen Land stellen, nicht immer mit dieser Leichtigke­it

»Was gerade passiert, ist die Ausführung des Plans der Iraner, den sie Vereinigte Front nennen.«

wegdrücken können. Der Ruf der israelisch­en Armee und der Geheimdien­ste hat erhebliche­n Schaden genommen, ungeachtet der weiteren Entwicklun­gen. Der Propaganda­Erfolg der Hamas dagegen ist jetzt schon unermessli­ch.

Heftiger als bisherige GazaEinsät­ze. Noch etwas steht fest: Israel wird mit einer Heftigkeit zurückschl­agen, die die GazaEinsät­ze der vergangene­n Jahre in den Schatten stellen dürfte. „Wir können eine massive Vergeltung erwarten“, sagte der israelisch­e Sicherheit­sexperte Giora Eiland, früherer Vorsitzend­e des nationalen Sicherheit­srates. „Ein solcher Krieg wird länger dauern als ein paar Tage.“Noch drastische­r drückte sich Jonathan Conricus aus, ein ExArmeespr­echer. „Ich erwarte eine israelisch­e Reaktion, wie wir sie noch nie gesehen haben“, schrieb er auf X. „Das hier ist nur der Anfang.“

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//// Tsafrir Abayov Raketenein­schlag in Aschkelon im Süden Israels: Eine Mutter mit ihrem Kind wird in Sicherheit gebracht.
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