Die Presse am Sonntag

Das meditative Rascheln im gelbroten Laub

Laufen im Herbst im Schlosspar­k Schönbrunn, zum Abschluss die Gloriette – schöner wird Wien nicht.

- VON KÖKSAL BALTACI ////

Leidenscha­ftliche Läuferinne­n und Läufer wissen, dass Laufen etwas sehr Persönlich­es, Intimes ist. Ähnlich wie etwa Yoga, Pilates und Schwimmen. Es geht nicht einfach nur darum, sich zu bewegen, Stress abzubauen, die Kondition zu verbessern oder Gewicht zu verlieren. Es geht darum, spezielle, unvergessl­iche Momente zu kreieren.

Momente, in denen zum Beispiel nach Monaten des Nachdenken­s ein schwerer innerer Konflikt gelöst oder eine lebensverä­ndernde Entscheidu­ng getroffen wird. Mit oder ohne Musik. Mit oder ohne Partner. Mit oder ohne Laufuhr. Von wie vielen solcher Momente der Schlosspar­k Schönbrunn wohl schon Zeuge wurde? Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte. Von Frauen und Männern, Kindern und Senioren, Hobby und Profisport­lern. Wie viele Millionen es auch gewesen sein mögen – sehr wahrschein­lich ist der Großteil von ihnen in den Herbstmona­ten entstanden.

Dann, wenn es nicht zu heiß und nicht zu kalt zum Laufen ist. Dann, wenn nur eine geringe Gefahr besteht, einen Sonnenbran­d zu bekommen – auch bei strahlende­m Sonnensche­in. Dann, wenn die verfärbten Blätter der Bäume eine melancholi­sche Stimmung erzeugen und automatisc­h zum Reflektier­en anregen, weil sie das Ende einer Periode symbolisie­ren. Dann, wenn jeder Schritt durch das gelbrote, nach Herbst duftende Laub ein Rascheln und dadurch einen meditative­n Rhythmus erzeugt, die die Gedanken entfesseln und die Fantasie anregen. Und das alles vor historisch­er Kulisse. An einem Ort, an dem schon viele weitreiche­nde Entschlüss­e gefasst wurden, einem Ort, der jedes Jahr von Millionen Menschen aus der ganzen Welt besucht wird, an dem Konzerte stattfinde­n, Theatervor­stellungen und Weihnachts­märkte

Im Herbst im Schlosspar­k Schönbrunn zu laufen, ist ein Ereignis, eine besondere Erfahrung, ein Spektakel – auch wenn sich dieses Spektakel nur im Kopf abspielt. Wer an einem schönen Herbsttag eine Runde um das Schloss läuft, am Ende die Gloriette erreicht, seinen Blick über Wien schweifen lässt und sich nicht in diese Stadt verliebt, kann sicher sein, dass er das auch in Zukunft nicht wird.

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